VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 12.10.2021 - 1 K 771/20 Me - asyl.net: M30233
https://www.asyl.net/rsdb/m30233
Leitsatz:

Ipso facto-Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist für palästinensische Flüchtlinge vorrangig gegenüber Familienschutz nach § 26 AsylG:

Palästinensische Geflüchtete aus Syrien, die vor ihrer Flucht unter dem Schutz der UNRWA standen, haben Anspruch auf originäre Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auch wenn daneben ein Anspruch auf Familienschutz besteht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Palästinenser, UNRWA, ipso facto-Flüchtling, Familienschutz,
Normen: AsylG § 26, AsylG § 3 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Nachdem das rechtskräftige Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts schon länger vor Erlass des Bescheides vom 24.04.2019 vorgelegen hatte und auch veröffentlicht war, hätte das Bundesamt den Eltern sowie den 3 minderjährigen Geschwistern des Klägers nicht einfach (nur) den abgeleiteten Flüchtlingsstatus zusprechen dürfen. Das Bundesamt hat in seinem Bescheid selbst festgestellt, dass die Eltern und Geschwister des Klägers staatenlose Palästinenser mit ständigem Wohnsitz in Syrien gewesen sind. Daher hätte es als Folge in dem Bescheid, der die 5 Familienmitglieder des hiesigen Klägers betraf, wegen deren Eigenschaft als Palästinenser mit (ehemals) ständigem Aufenthalt, Schutz und Beistand des UNRWA in Syrien die Flüchtlingseigenschaft "ipso facto" d. h. unmittelbar ohne eine Einzelfallprüfung der Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG zusprechen müssen. Dazu hat das Thüringer Oberverwaltungsgericht in seinem vorgenannten Urteil ausdrücklich festgestellt, dass zwar diese Vorschrift des Asylgesetzes die Formulierung "ipso facto'' in Art. 12 Abs. 1 lit. a) Satz 2 RiLi 2011/95/EU nicht verwende (vgl. auch Art. 1 Abschnitt D Satz 2 GFK), sie sei jedoch richtlinienkonform dahingehend auszulegen. § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG sei insoweit eine Rechtsfolgenverweisung (ThürOVG, U. v. 05.06.2018 - 3 KO 167/18). Unter Nichtbeachtung dieses "ipso facto" bestehenden originären Anspruchs auf den Flüchtlingsstaus hat die Beklagte in ihrem Bescheid lediglich eine Ableitung des Flüchtlingsstatus zugunsten der Eltern und Geschwister des Klägers angenommen und in der Begründung festgehalten. Nach alldem erweist sich der die Eltern und die 3 Geschwister des Klägers betreffende Bescheid der Beklagten vom 24.04.2019 somit in seiner Begründung für die zuerkannte Flüchtlingseigenschaft als defizitär.

Soweit die Beklagte in ihrer Erwiderung die Ansicht vertritt, dass die Begründung des Bescheides nicht einfach austauschbar sei, weil das auch einen Wechsel der Anspruchsgrundlage bedeuten würde, der aber nicht ihrem Willen im Zeitpunkt der Entscheidung entsprochen habe, verhilft ihr das nicht weiter. Denn der Anspruch auf den Flüchtlingsstatus der Eltern des Klägers besteht nach der Entscheidung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts "ipso facto", und zwar unabhängig von einer Einzelfallprüfung der Beklagten und deren Willen, auf welche Anspruchsgrundlage sie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft stützen möchte. Letztendlich hätte den Eltern des Klägers, nachdem sie bereits (abgeleiteten) Flüchtlingsschutz bekommen haben, für eine Klage auf unmittelbare, originäre Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund der UNRWA-Registrierung das Rechtsschutzbedürfnis gefehlt und für einen Folgeantrag würde es sich nicht um ein neues Vorbringen handeln.

Aufgrund des originären ("ipso facto") Anspruchs der Eltern auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus darf sich das hier vorliegende Begründungsdefizit im Bescheid der Eltern allerdings nicht zu Lasten des minderjährigen Klägers auswirken, denn zugunsten seiner Eltern besteht der ( eigentlich) vorrangige, originäre UNRWA-Flüchtlingsschutz, der einen eigenständigen Flüchtlingsstatus begründet. Von diesem originären Flüchtlingsschutzstatus seiner Eltern kann der minderjährige Kläger sein Klagebegehren über das Familienasyl gemäߧ 26 Abs. 3 und Abs. 5 AsylG ableiten. Daher war die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 29.06.2020 zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu verpflichten. [...]