VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Gerichtsbescheid vom 09.11.2021 - 8 K 1132/19 Me - asyl.net: M30239
https://www.asyl.net/rsdb/m30239
Leitsatz:

Kein Widerruf des Abschiebeverbotes für afghanischen, jungen, gesunden Mann:

1. Durch die Machtübernahme der Taliban hat sich die humanitäre Lage in Afghanistan noch einmal erheblich verschlechtert. Auch können Unterstützungsleistungen zur freiwilligen Ausreise nach Afghanistan derzeit nicht in Anspruch genommen werden.

2. In der Folge ist auch für junge, gesunde und alleinstehende Männer ist jedenfalls dann ein Abschiebungsverbot festzustellen, wenn sie weder über ein soziales Netzwerk noch über erhebliche eigene Vermögenswerte verfügen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, humanitäre Gründe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer, Arbeitslosigkeit, Existenzminimum, Widerruf, Taliban, freiwillige Ausreise, familiäres Netzwerk,
Normen: AsylG § 73c, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

M30239, VG Meiningen, Gerichtsbescheid vom 09.11.2021 - 8 K 1132/19 Me

Kein Widerruf des Abschiebeverbotes für afghanischen, jungen, gesunden Mann:

1. Durch die Machtübernahme der Taliban hat sich die humanitäre Lage in Afghanistan noch einmal erheblich verschlechtert. Auch können Unterstützungsleistungen zur freiwilligen Ausreise nach Afghanistan derzeit nicht in Anspruch genommen werden.

2. In der Folge ist auch für junge, gesunde und alleinstehende Männer ist jedenfalls dann ein Abschiebungsverbot festzustellen, wenn sie weder über ein soziales Netzwerk noch über erhebliche eigene Vermögenswerte verfügen.

(Leitsätze der Redaktion)
Schlagwörter: Afghanistan, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, humanitäre Gründe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer, Arbeitslosigkeit, Existenzminimum, Widerruf, Taliban, freiwillige Ausreise, familiäres Netzwerk,
Normen: AsylG § 73c, AufenthG § 60 Abs. 5,

[...]

Ausgehend von diesen Grundsätzen droht dem Kläger nach Überzeugung des Gerichts aufgrund der humanitären Umstände eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Afghanistan. Denn die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan, insbesondere die unzureichende Versorgungslage, und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen zum Zeitpunkt der Entscheidung eine Intensität auf, dass im Fall des Klägers von einer unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK auszugehen ist, die sich auch alsbald nach seiner Rückkehr verwirklichen würde. [...]

Diese humanitäre Lage hat sich nach der Machtübernahme durch die Taliban bereits erheblich verschlechtert und droht sich weiter zu verschlechtern:

So verschlechtert sich die Ernährungssicherheit, und zwar sowohl in den Städten als auch in den ländlichen Gebieten. Nur noch geschätzte 5 % der Afghanen haben genug zu essen. Bereits Mitte September 2021 bestand für 95 % der Afghanen eine unzureichende Nahrungsaufnahme (vgl. UNHCR, Flash External Update: Afghanistan Situation #7; World Food Programm, Afghanistan Food Security Update #2 v. 22.09.2021). Laut einer Meldung der UN vom 03.10.2021 seien zwei Millionen Kinder in Afghanistan von Unterernährung bedroht (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 04.10.2021). Das World Food Programm geht aktuell bereits von drei Millionen unterernährten Kindern aus (BAMF, Briefing Notes v. 11.10.2021). Laut einer Meldung vom 22.10.21 würden in der Provinz Farah 80 % der Bevölkerung in Armut und Hunger leben. Mit dem nun einsetzenden Winter wird sich die Lage weiter verschlechtern. (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 25.10.2021). [...]

Es ist nach alledem nicht davon auszugehen, dass derzeit ein normales wirtschaftliches Leben in Afghanistan stattfindet.

Auch durch internationale Hilfsleistungen wird es kaum möglich sein, die Bevölkerung Afghanistans auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen. UNHCR teilte mit, dass mehr Unterstützung für humanitäre Hilfe dringend benötigt wird (vgl. www.unhcr.org/dach/de/68457-afghanistan-mehr-unterstuetzung-fuer-humanitaere-hilfe-dringend-benoetigt.html). Laut einer Erklärung des UN-Generalsekretärs vom 31.08.2021 braucht die Hälfte der afghanischen Bevölkerung (18 Millionen Menschen) humanitäre Hilfe zum Überleben, es wird erwartet, dass mehr als die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren im nächsten Jahr an akuter Mangelernährung leiden wird (Statement v. 31.8.2021 - www.un.org/sg/en/node/258839). Auf dem G20-Gipfel in Rom wurde am 13.10.21 beschlossen, einen wirtschaftlichen Kollaps in Afghanistan abzuwenden. Deutschland erklärte sich bereit, 600 Mio. EUR für humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen, die EU eine Mrd. EUR für Afghanistan und die Nachbarländer, die afghanische Flüchtlinge beherbergen. Die VR China erklärte sich am 14.10.21 bereit, humanitäre Hilfe im Umfang von 30 Mio. USD zur Verfügung zu stellen. Das World Food Programme erklärte am 13.10.21, dass es humanitäre Hilfe für fünf Millionen Menschen in Nordafghanistan bereitstelle, da dort aktuell 60 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben würden. Dies gelte auch für die Menschen in der Provinz Bamian (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 18.10.2021). Am 19.10.21 hatte Kasachstan 4.000 Tonnen Mehl als Hilfslieferung für die hungernde Bevölkerung in die Provinz Balkh entsendet und am 22.10.21 hat Pakistan humanitäre Hilfe in Höhe von ca. 28 Mio. USD für Afghanistan zugesagt (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 25.10.2021). Am 22.10.21 hat das Entwicklungshilfeprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) einen Treuhandfond eingerichtet, um den wirtschaftlichen Kollaps in Afghanistan zu verhindern. Deutschland stelle dafür 50 Mio. EUR zur Verfügung (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 25.10.2021).

Insofern ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es auch für den Kläger unmöglich ist, seinen Lebensunterhalt im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan unter diesen Umständen zu sichern. Ein besonders leistungsfähiges familiäres Netzwerk in Afghanistan oder anderer begünstigenden Faktoren sind in seinem Fall nicht ersichtlich. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist vielmehr davon auszugehen, dass soziale Kontakte nach einer so langen Abwesenheit aus dem Heimatland nicht mehr bestehen (vgl. auch VGH Baden-Württemberg, U. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris). Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, dass Rückkehrende aufgrund des gewaltsamen Konflikts und der damit verbundenen Binnenflucht der Angehörigen nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan v. 22.10.2021, S. 14). Insbesondere stehen dem Kläger aktuell auch keine Rückkehrhilfen zur Verfügung. Diese Hilfen, die beispielsweise nach der bisherigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (U. v. 23.6.2021 - 13a ZB 21.3043 -, juris; U. v. 7.6.2021 - 13a B 21.30342 -, juris) und des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts (U. v. 25.03.2021 - 1 Bf 388/19.A -, juris) als geeignet angesehen wurden, das Bestreiten des Existenzminimums volljähriger, alleinstehender und arbeitsfähiger Männer in Afghanistan über einen hinreichenden, eine Verletzung von Art. 3 EMRK ausschließenden Zeitraum zu ermöglichen, sind seit dem 17. August 2021 aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage bis auf weiteres ausgesetzt (vgl. www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan).

Folglich drohen dem Kläger im Falle einer Rückkehr Obdachlosigkeit, Hunger und Armut für einen nicht absehbaren Zeitraum ohne jegliche Aussicht auf Besserung. Leib und Leben wären mithin unmittelbar nach Rückkehr in Gefahr. Es droht ihm damit konkret eine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit. Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger im zeitlichen Zusammenhang mit einer Abschiebung verelenden würde. [...]