VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 08.11.2021 - 11 K 2310/19.F.A - asyl.net: M30250
https://www.asyl.net/rsdb/m30250
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Dolmetscher der afghanischen Streitkräfte:

Dem Kläger ist als ehemaligen Dolmetscher der amerikanischen Armee in Afghanistan die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da er schon vor seiner Ausreise aufgrund seiner Tätigkeit von den Taliban bedroht wurde und davon auszugehen ist, dass sich die Gefährdungslage nach der Machtübernahme der Taliban noch einmal verschärft hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, Dolmetscher, politische Überzeugung, vermeintliche politische Überzeugung, Flüchtlingsanerkennung, interner Schutz,
Normen: AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3d, AsylG § 3e, AsylG § 3,
Auszüge:

[…]

Ausgehend von diesen Grundsätzen steht dem Kläger im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zu. Nach Überzeugung des Gerichts droht dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung aus politischen Gründen durch die Taliban, die nach der Machtübernahme im August 2021 die Staatsgewalt in Afghanistan ausüben. Das Gericht ist auf der Grundlage seines Vortrags und des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks davon überzeugt, dass der Kläger zum jetzigen Zeitpunkt in Afghanistan von politischer Verfolgung bedroht wäre. Die Einzelrichterin ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung zunächst davon überzeugt, dass der Kläger aufgrund seiner Tätigkeit als Dolmetscher für die amerikanischen Streitkräfte in das Visier geraten ist und von diesen individuell aus politischen Gründen im Sinne von § 3 Abs. 1 Ziffer 5 AsylG bedroht wurde. Das Gericht ist aufgrund der anschaulichen und überzeugenden Angaben des Klägers bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass er als Dolmetscher auch an Einsätzen gegen die Taliban teilnahm, bei denen Taliban getötet und verhaftet wurden und er bei der Befragung gefangener Taliban dolmetschte. Der Kläger hat weiter glaubhaft dargelegt, dass er bereits während seiner Dolmetschertätigkeit durch die Taliban bedroht wurde. Es ist daher nach der Auskunftslage davon auszugehen, dass er wegen dieser Tätigkeit bei einer Rückkehr nach Afghanistan zum jetzigen Zeitpunkt von landesweiter Verfolgung bedroht ist, da die Taliban mittlerweile in ganz Afghanistan die Macht übernommen hat und eine interne Schutzmöglichkeit nicht mehr besteht. Aufgrund der Beteiligung des Klägers an den Militär- bzw. Polizeieinsätzen ist weiter davon auszugehen, dass die Taliban auch zum jetzigen Zeitpunkt noch ein Verfolgungsinteresse haben, zumal der Kläger glaubhaft vorgetragen hat, dass sein Onkel, der ihn bereits vor seiner Ausreise wegen der Dolmetschertätigkeit für die amerikanischen Streitkräfte bedrohte, nach der Machtübernahme der Taliban für diese tätig ist.

Die Klage ist auch begründet, soweit die Aufhebung der Nummer 3 und 4 des angefochtenen Bescheids begehrt wird. Denn die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, lässt die negative Feststellung des Bundesamts im Übrigen angesichts des Eventualverhältnisses gegenstandslos werden, so dass der ablehnende Bescheid auch insoweit aufzuheben ist. Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheides ist wegen der im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bestehenden Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufzuheben, da die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 AsylG nicht mehr vorliegen. Da sich mangels Ausreisepflicht kein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG ergibt, ist auch die Befristungsanordnung der Nr. 6 aufzuheben. […]