VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 01.12.2021 - 6 K 1983/19 - asyl.net: M30261
https://www.asyl.net/rsdb/m30261
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Mitglied der kurdischen Komala-Partei aus dem Iran:

1. Auch einfache Anhänger*innen verbotener kurdischer Parteien sowie Familienmitglieder von Parteimitgliedern und Unterstützer*innen laufen Gefahr, von iranischen Behörden befragt und inhaftiert zu werden. 

2. Der Grad der Gefährdung wegen exilpolitischer Betätigung für Mitglieder der Komalah-Partei ist hoch.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Kurden, Komalah-Partei, Komala, Flüchtlingsanerkennung, Flüchtlingseigenschaft, Exilpolitik,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Unter Zugrundelegung der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen muss die Klägerin berechtigterweise befürchten, dass ihr aufgrund der (exil-)politischen Aktivitäten für die Komalah-Partei bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verfolgung durch den iranischen Staat droht.

Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin den Iran aus Furcht vor unmittelbar bevorstehender Verfolgung verlassen hat, weil ihre Aktivitäten für die Komalah-Partei den iranischen Sicherheitskräften bekannt geworden waren. [...]

Aufgrund der Auskunftslage ist davon auszugehen, dass generell die Teile der iranischen Bevölkerung, die öffentliche Kritik an Missständen üben oder sich für Menschenrechtsthemen engagieren, der Gefahr staatlicher Verfolgung ausgesetzt sind. Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder islamische Grundsätze infrage stellt. Als rechtliche Grundlage dienen dazu weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der Islamischen Republik als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, vom 05.02.2021, 508-516.80/3 IRN, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Iran, vom 02.07.2021, sowie Schweizerische Flüchtlingshilfe, Iran: Gefährdung politisch aktiver kurdischer Personen, vom 27.09.2018).

Dabei sind insbesondere Kurdinnen und Kurden überwiegend sunnitischen Glaubens hinsichtlich ihrer kulturellen Eigenständigkeit staatlicher Diskriminierung ausgesetzt. Kurdischen Aktivistinnen und Aktivisten werden in vielen Fällen von der iranischen Zentralregierung separatistische Tendenzen vorgeworfen und diese entsprechend geahndet. Im Bericht des VN-Sonderberichterstatters zur Menschenrechtslage im Iran vom Juli 2019 wurde festgehalten, dass fast die Hälfte aller politisch Inhaftierten zur kurdischen Minderheit zählen und dabei überproportional oft aus Gründen der nationalen Sicherheit zur Todesstrafe verurteilt werden. Kurdische Personen, welche sich politisch engagieren oder mit politischen Aktivitäten in Verbindung gebracht werden, werden zum Ziel der iranischen Behörden. Dies gilt vor allem für kurdische Personen mit Verbindungen zu traditionell separatistischen kurdischen Parteien wie der kurdisch-marxistischen Komalah-Partei, der KDPI und der PJAK, welche die Unabhängigkeit und antistaatliche Aktivitäten propagieren. Bereits bei friedlichen Aktivitäten kann ein behördliches Eingreifen drohen. In Einzelfällen reichen sogar einfache Aktivitäten, wie Teilnahme an Demonstrationen oder an Streiks, aus, um der Zusammenarbeit mit der Opposition beschuldigt zu werden. Mit dem Grad des oppositionellen Engagements nimmt dabei die Wahrscheinlichkeit, Ziel politischer Verfolgungsmaßnahmen zu werden, grundsätzlich zu (vgl. zu Vorstehendem Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, vom 05.02.2021, a.a.O., Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Iran, vom 29.01.2021, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Iran: Gefährdung politisch aktiver kurdischer Personen, vom 27.09.2018; ferner Danish Immigration Service, Country Report: Iranian Kurds, Consequences of political activities in Iran and KRI, vom Februar 2020).

Gefährdet sind nicht nur die Mitglieder der verbotenen kurdischen Parteien, sondern auch deren einfache Anhänger. Familienmitglieder von Parteimitgliedern und Unterstützern laufen ebenfalls Gefahr, von den iranischen Behörden befragt, inhaftiert und verhaftet zu werden, um dadurch Druck auf die Aktivisten auszuüben. Auch Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußern und dann in den Iran zurückkehren, sind von Repressionen bedroht (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran, vom 05.02.2021, a.a.O., sowie Auskunft an VG Würzburg vom 04.10.2021, 508-516.80/53887).

Stichhaltige Gründe, die dagegen sprechen würden, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in ihr Heimatland erneut von flüchtlingsschutzrelevanter Verfolgung wegen ihrer Aktivitäten für die Komalah-Partei bedroht wäre, liegen nicht vor. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass die Klägerin aufgrund dessen, dass sie ausweislich der vorgelegten Bescheinigung der Komalah-Partei vom ... 2020 zwischenzeitlich in die Komalah-Partei eingetreten ist, sie weiterhin für die Partei ... tätig wird und auch an von der Komalah-Partei organisierten Demonstrationen sowie deren Veranstaltungen teilnimmt, bei einer Rückkehr in den Iran einer zusätzlichen Gefährdungslage ausgesetzt wäre. Exilpolitische Organisationen im Ausland sowie deren Aktivitäten werden durch den iranischen Sicherheitsdienst genauestens überwacht. Dabei übersteigt der Grad der Gefährdung wegen exilpolitischer Betätigung für Mitglieder der Komalah-Partei denjenigen, der für Mitglieder und Anhänger anderer Exilorganisationen angenommen wird (vgl. Hessischer VGH, Beschluss vom 24.07.2007, 6 UE 3108/05.A, und VG Würzburg, Urteil vom 15.02.2017, W 6 K 16.32201, jeweils zitiert nach juris; ferner Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Würzburg, vom 04.10.2021, 508-516.80, 53887, wonach bei exilpolitisch aktiven Rückkehrern von einer gestiegenen Verfolgungswahrscheinlichkeit ausgegangen werden kann). [...]