VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 27.12.2021 - 6 K 5268/17A - asyl.net: M30281
https://www.asyl.net/rsdb/m30281
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für ehemaligen afghanischen Polizisten:

1. Afghanische Staatsbürger, die für die westlichen Streitkräfte, das afghanische Militär oder die Nationalpolizei gearbeitet haben, werden durch die Taliban verfolgt. Auch wenn die Taliban-Führung in öffentlichen Presseerklärungen versichert, Menschenrechte zu wahren und nicht gewaltsam gegen ehemalige Angehörige der Opposition und der Armee vorzugehen, haben sich in der Praxis Hausdurchsuchungen und gewalttätige Übergriffe gegen diese Personengruppe gemehrt.

2. Einer Person, die bis mindestens Ende 2014 in Kabul als Polizist gearbeitet hat, drohen Verfolgungshandlungen wegen ihrer (zugeschriebenen) politischen Überzeugung.

3. Die Verfolgungswahrscheinlichkeit erhöht sich durch den Aufenthalt im westlichen Ausland, da bei einer unterstellten Rückkehr die vorherige Tätigkeit der betroffenen Person bekannt würde und ihr eine missbilligte Gesinnung zugeschrieben würde.

4. Aufgrund der landesweiten Herrschaftsgewalt der Taliban und der derzeitigen wirtschaftlichen und humanitären Lage in Afghanistan gibt es keine interne Schutzalternative.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Polizei, Berufsgruppe, interne Fluchtalternative, Taliban, Rückkehrgefährdung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen Grundsätzen droht dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in oben genanntem Sinne.

Das Gericht ist aufgrund der von dem Kläger bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegten Ausweise und Dokumente, die seinen Vortrag insoweit bekräftigen, davon überzeugt, dass der Kläger mindestens bis Ende 2014 als Polizist für die Polizei Kabul gearbeitet hat. Dies wurde auch vom Bundesamt nicht in Frage gestellt. Aufgrund dieser Tatsache droht dem Kläger zur Überzeugung des Gerichts unabhängig davon, ob von einer Vorverfolgung des Klägers auszugehen ist, bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung. Dabei geht die Verfolgungsgefahr von den Taliban aus, die im Entscheidungszeitpunkt jedenfalls die Herrschaftsgewalt über einen wesentlichen Teil des afghanischen Staatsgebietes innehaben (§ 3a Nr. 2 AsylG).

Derzeit besteht nach Auffassung des Gerichts eine weit überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass afghanische Staatsbürger, die für die westlichen Streitkräfte sowie das afghanische Militär und die Nationalpolizei gearbeitet haben, von Verfolgungshandlungen der Taliban betroffen sein werden. Zwar hat die Taliban-Führung in öffentlichen Presseerklärungen versichert, Menschenrechte zu wahren und nicht gewaltsam gegen ehemalige Angehörige der Opposition und der Armee vorzugehen. In der Praxis haben sich jedoch Berichte zu Hausdurchsuchungen und Übergriffen - auch unter Anwendung von Gewalt - gegen ebendiese Personengruppen gemehrt (vgl. etwa EASO, Country Guidance Afghanistan, November 2021, S. 15, 58 f., Deutsche Welle, "Taliban hunting down Afghans on blacklist - report", 20. August 2021, www.dw.com/en/taliban-hunting-down-afghans-on- blacklist-report/a-58914571; BBC: "Afghanistan: Taliban carrying out door-to-door manhunt, report says", 20. August 2021, www.bbc. com/news/world-asia-58271797; BBC: "They will Kill me": Desperate Afghans seek way out after Taliban takeover, 21. August 2021, www.bbc. com/news/world-asia-58286372, jeweils zuletzt abgerufen am 25. November 2021.

Die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung wird im Fall des Klägers noch dadurch erhöht, dass ihm als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland nach derzeitigem Erkenntnisstand eine besondere Aufmerksamkeit der Taliban zu Teil würde. In diesem Fall ist es hochwahrscheinlich, dass die vorherige Tätigkeit des Klägers bekannt würde und die Taliban dem Kläger aufgrund dessen und in Anbetracht seines anschließenden Aufenthalts im westlichen Ausland eine von ihnen missbilligte Gesinnung zuschrieben.

Schließlich steht dem Kläger mit Blick darauf, dass die Taliban derzeit die Herrschaftsgewalt über Kabul sowie über fast das gesamte Staatsgebiet innehaben, sowie unter Berücksichtigung der derzeitigen wirtschaftlichen und humanitären Lage in Afghanistan keine interne Schutzalternative i.S.d. § 3e AsylG zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund ist es dem Kläger nicht zuzumuten, in sein Heimatland zurückzukehren. [...]