VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.11.2021 - 5a K 6223/17.A - asyl.net: M30286
https://www.asyl.net/rsdb/m30286
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Frau aus Afghanistan wegen "Verwestlichung":

Frauen, deren Identität westlich geprägt ist, droht in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban auch ohne Vorverfolgung eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Taliban, soziale Gruppe, Flüchtlingseigenschaft, westlicher Lebensstil, Verwestlichung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Nach den obigen Maßstäben ist die Klägerin als Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG anzusehen. Die Klägerin befindet sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – der Gruppe afghanischer Frauen, deren Identität aufgrund eines (längeren) Aufenthalts in Europa westlich geprägt ist – außerhalb der Islamischen Republik Afghanistan, deren Staatsangehörigkeit sie besitzt und deren Schutz sie nicht in Anspruch nehmen kann (vgl. dazu auch OVG Lüneburg, Urteil vom 21. September 2015 – 9 LB 20/14 –, Rn. 27, juris).

Dabei kann nach derzeitiger Erkenntnismittellage – insbesondere nach dem Sturz der Zivilregierung in Afghanistan und der Machtübernahme durch die Taliban am 15.08.2021 – davon ausgegangen werden, dass afghanische Frauen, deren Identität in der oben beschriebenen Weise westlich geprägt ist, in der Islamischen Republik Afghanistan je nach den Umständen des Einzelfalls auch ohne eine Vorverfolgung oder Vorschädigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure zumindest in der Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG), ausgesetzt sein können. Insbesondere können ihnen die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) und sonstige Handlungen, die an ihre Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (§ 3a Abs. 2 Nr. 6), drohen (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 21.09.2015 – 9 LB 20/14 –, Rn. 31 ff., mit zahlreichen weiteren Nachweisen, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 24.03.2017 – 5a K 5923/16.A).

Vor der Machtübernahme der Taliban konnte zwar festgestellt werden, dass die Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans zunehmend die Rechte der Frauen gestärkt haben. Allerdings ist schon insoweit nahezu einhellig berichtet worden, dass dies für die meisten Betroffenen kaum Auswirkungen auf ihre Lebenswirklichkeit gehabt hat. Frauen wurden nach wie vor in vielfältiger Hinsicht diskriminiert (vgl. Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 31. März 2014, S. 13 f., und 4. Juni 2013, S. 12 f.; Amnesty International, Jahresbericht Afghanistan 2012, 24. Mai 2012, sowie Jahresbericht Afghanistan 2013, 23. Mai 2013; Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Afghanistan: Update: Die aktuelle Sicherheitslage", 3. September 2012, S. 14 f., und "Afghanistan: Situation geschiedener Frauen", 1. November 2011, S. 1 f.; s. auch UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung, 24. März 2011, S. 7). [...]

Allerdings ist die Annahme eines westlichen Lebensstils nach § 3b Abs. 1 Nr. 4a Halbsatz 1 AsylG nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d. h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht, und eine Aufgabe dieser Lebenseinstellung nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist (so OVG Lüneburg, Urteil vom 21.09.2015 – 9 LB 20/14 –, Rn. 38, juris).

Ausgehend von den obigen Maßstäben ist das Gericht auch nach den Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 08.11.2021 davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass die Klägerin aufgrund ihrer bereits erlittenen westlichen Prägung und ihrer (bereits zuvor) bestehenden inneren Einstellung, die sich insbesondere gegen die archaisch-patriarchalische Gesellschaft in Afghanistan richtet, im Fall der Rückkehr in ihre Heimatprovinz Kabul mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt wäre.

Die Klägerin hat bereits eine nicht erhebliche westliche Prägung erfahren. Die Klägerin hat Afghanistan bereits vor über fünf Jahren verlassen hat und lebt seitdem in Deutschland. In Deutschland hat die Klägerin kontinuierlich ihre Deutschkenntnisse erweitert und arbeitet auf die Aufnahme eines Ausbildungsberufes (Erzieherin) hin. In der mündlichen Verhandlung ist augenscheinlich geworden, dass die Klägerin sich aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes (Kleidung, Frisur) nicht von demjenigen anderer junger – westlicher – Frauen unterscheidet. Ein Kopftuch trägt die Klägerin seitdem sie in Deutschland lebt nicht mehr. Zudem hat die Klägerin bereits vor ihrer Flucht aus Afghanistan eine innere Haltung entwickelt, die sich deutlich gegen die in Afghanistan – und auch in ihrer Heimatprovinz vorherrschende – archaisch-patriarchalische Gesellschaft richtet. Die Klägerin hat bereits in ihrer Anhörung bei dem Bundesamt am 12.09.2016 ausführlich zu ihrem Werdegang vor ihrer Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2016 vorgetragen. So hat die Klägerin im Jahr 2011 ihre Familie verlassen, um mit dem von ihr ausgewählten Partner zusammen zu leben. Nach dem Tod ihres Freundes ist es der Klägerin aus eigener Kraft gelungen, sich und ihre minderjährige Schwester mit ihrer Tätigkeit als Lehrerin auskömmlich zu versorgen. Die Klägerin kann für diese Phase ihres Lebens – und für afghanische Verhältnisse völlig untypisch – durchaus als "alleinerziehend" bezeichnet werden.

Die Angaben, die die Klägerin in der mündlichen Verhandlung zu ihrer Situation in Afghanistan und den dortigen Lebensumständen gemacht hat, decken sich mit denjenigen, die sie bereits in ihrer Anhörung beim Bundesamt getätigt hat. Sie sind als konsistent zu bezeichnen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin ihre Angaben erfunden bzw. aus prozesstaktischen Gründen "überzeichnet" hat. Es ist erkennbar, das die Grundhaltung der Klägerin sich aus einer gefestigten inneren Einstellung ableitet und bereits bei ihrem Leben in Afghanistan bestanden hat.

Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass es der Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mehr möglich wäre, ihre verfestigte innere Einstellung zu verbergen und sich den dortigen Lebensverhältnissen anzupassen. Einerseits spricht bereits der Umstand dagegen, dass sich die Klägerin schon vor ihrer Flucht aus Afghanistan in dem beschriebenen inneren Konflikt befunden hat, der auch im Alltagsleben zu erheblichen Problemen mit der afghanischen Gesellschaft und ihrer Kernfamilie geführt hat. Andererseits haben sich die Einstellung der Klägerin sowie die weiteren Umstände (Annäherung an westliche Werte, Aneignung der deutschen Sprache, Ablegen des Kopftuches als religiöses Symbol) seit der Ankunft in Deutschland nochmals ganz erheblich verstärkt.

Schließlich wäre der Klägerin ein Verheimlichen bzw. ein Verleugnen ihrer Einstellung nicht zumutbar. Die Klägerin kann nicht dazu gezwungen werden, sich dem traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen in der Islamischen Republik Afghanistan mit einem angepassten Lebensstil zu unterwerfen. Denn sie müsste dafür den wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben und würde dadurch in ihrer Menschenwürde verletzt (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 21.09.2015 – 9 LB 20/14 –, Rn. 46, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 24.03.2017 – 5a K 5923/16.A).

Im Fall ihrer Rückkehr würde die Klägerin aufgrund ihrer Einstellung und ihres damit verbunden Verhaltens erneut auffallen und Konfrontationen ausgesetzt sein, die sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in geschlechtsspezifischen Belästigungen, Diskriminierungen bis hin zu erheblichen Gewalttaten darstellen würden, was wiederum einer schweren Menschenrechtsverletzung gleichkäme.

Zu beachten ist ferner, dass die Klägerin in ihrer Heimat weder auf den Schutz ihrer Familie noch ihres Ehemannes bauen kann. Die Familie der Klägerin (Eltern, Geschwister) hat Afghanistan bereits ebenfalls vor Jahren verlassen und lebt in Deutschland. Bei einer Rückkehr der Klägerin nach Afghanistan wäre zwar an sich prognostisch von einer Rückkehr der Klägerin zusammen mit ihrem Ehemann, dem mit Bescheid des BAMF vom 17.12.2019 (Az. 6638972-423) die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuerkannt worden ist, auszugehen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45/18 –, BVerwGE 166, 113-125, Rn. 17). [...]