VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 06.12.2021 - 5a K 6855/17.A - asyl.net: M30288
https://www.asyl.net/rsdb/m30288
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für einen jungen Mann wegen Taliban-Verfolgung:

1. Der Kläger ist vorverfolgt ausgereist, da er in Afghanistan als Jugendlicher von den Taliban körperlich und sexuell misshandelt wurde. Ihm ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, da keine Gründe dafür ersichtlich sind, dass ihm nunmehr - nach der Machtübernahme der Taliban - bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Gefahr mehr droht.

2. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheitert hingegen daran, dass ein Verfolgungsgrund nicht vorliegt. Da der Kläger mittlerweile erwachsen ist, droht ihm keine erneute sexualisierte Gewalt, so dass keine geschlechtsspezifische Verfolgung vorliegt. Ebenfalls kann bei einer Verfolgung durch die Taliban nicht per se von einer politischen Verfolgung ausgegangen werden, da die Ziele der Taliban eine diffuse Gemengelage aus politischen, religiösen und wirtschaftlich-sozialen Motiven aufweisen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, Verfolgungsgrund, geschlechtsspezifische Verfolgung, sexualisierte Gewalt, subsidiärer Schutz, Hazara,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

a) Nach dem glaubhaften Vorbringen des Klägers war er zwar bereits vor seiner Flucht aus Afghanistan einer "Verfolgung" in Afghanistan ausgesetzt, weil er anlässlich eines Überfalls der Taliban auf das heimatliche Dorf und auch das Haus der klägerischen Familie durch die Taliban mit einem Messer verletzt und sodann vergewaltigt worden ist.

Hiervon ausgehend sind im Fall des Klägers die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung jedenfalls nicht mehr gegeben. Dabei kann vorliegend dahingestellt bleiben, ob es sich bei dem von dem Kläger berichteten sexuellen Übergriff um rein kriminelles Unrecht gehandelt oder eine geschlechtsspezifische Verfolgung des Klägers vorgelegen hat, die an eines der in § 3 AsylG genannten Verfolgungsmotive anknüpft. Denn selbst bei Annahme einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung besteht für den Kläger keine erhebliche Gefahr, bei einer Rückkehr nach Afghanistan erneut Opfer eines sexuellen Übergriffs zu werden. Das Gericht schließt eine erneute sexuell motivierte Verfolgung des Klägers durch die Männer, die ihn seinerzeit in Afghanistan als Jugendlichen missbraucht haben, aus. Aufgrund seiner Volljährigkeit und seines älter gewordenen Erscheinungsbildes ist nicht mehr zu erwarten, dass die Männer (Angehörige der Taliban), die sich in der Vergangenheit an ihm vergriffen haben, noch immer an ihm interessiert wären. Zu berücksichtigen ist dabei insbesondere, dass im Gegensatz zu dem gesellschaftlich tolerierten Missbrauch von Knaben (etwa als Tanzjungen - "Baccha Baazi") sexuelle Handlungen unter gleichgeschlechtlichen Erwachsenen in Afghanistan als verpönt angesehen werden (vgl. hierzu etwa VG Köln, U.v. 6.12.2011 – 14 K 6478/09.A – juris Rn. 34 m.w.N.; VG München, Urteil vom 15. Juni 2015 – M 12 K 14.30590 –, Rn. 23 - 25, juris).

Soweit dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut körperliche Misshandlungen (so insbesondere Verletzungen mit einem Messer) durch die Taliban drohen, knüpft diese Form der Gewalt an kein flüchtlingsrechtlich relevantes Merkmal an, sondern kann nur im Rahmen der Prüfung des § 4 AsylG (subsidiärer Schutz) Berücksichtigung finden. (Siehe dazu unten zu Punkt 2.) b) Daneben ist hier insbesondere nach den Schilderungen des Klägers nicht ersichtlich, dass dem Kläger seinerzeit durch die Taliban explizit eine abweichende politische Überzeugung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG zugeschrieben worden ist. So ist durch den Kläger nicht dargetan, dass er sich selbst in irgendeiner Art und Weise in einer den Taliban missbilligten Form politisch betätigt hat und gerade deshalb in seinen Fokus gerückt ist. Vielmehr richteten sich die Verdächtigungen der Taliban gegen den Vater des Klägers, nicht aber gegen den Kläger selbst.

Die Ziele der Taliban sind per se auch nicht eindeutig politischer Natur, sondern weisen eine diffuse Gemengelage aus politischen, religiösen und wirtschaftlich-sozialen Motiven auf (vgl. VG Würzburg, Urteil vom 28. Oktober 2016 – W 1 K 16.31835 –, Rn. 33, juris).

c) Zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führt auch nicht der Umstand, dass der Kläger der Volksgruppe der Hazara angehört und schiitischer Religionszugehörigkeit ist. Nach derzeitiger Auskunftslage bestehen keine Hinweise auf eine sogenannte Gruppenverfolgung der Hazara (vgl. nur VG Gelsenkirchen, Urteil vom 25. Mai 2020– 5a K 10808/17.A –, Rn. 42, juris).

Dementsprechend wird die Frage nach einer Gruppenverfolgung von Volkszugehörigen der Hazara in Afghanistan von der obergerichtlichen Rechtsprechung durchgängig abgelehnt (vgl. etwa NdsOVG, U.v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 - juris Rn. 75; VGH BW, U.v. 17.1.2018 - A 11 S 241/17 - juris Rn. 77 ff.; U.v. 5.12.2017 - A 11 S 1144/17 - juris Rn. 54 ff.; BayVGH, B.v. 14.8.2017 - 13a ZB 17.30807 - juris Rn. 17 ff.; B.v 20.1.2017 - 13a ZB 16.30996 - juris Rn. 11 f.; B.v. 4.1.2017 - 13a ZB 16.30600 - juris Rn. 6).

d) Auch die Rückkehr des Klägers aus einem westlichen Land nach Afghanistan würde nicht zu einer ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden (Gruppen-) Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG führen. Hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung mangelt es jedenfalls an der hierfür erforderlichen Verfolgungsdichte (vgl. nur VG Gelsenkirchen, Urteil vom 29. November 2019 – 5a K 7039/17.A –, Rn. 49 - 50, juris).

2. Dem Kläger steht jedoch ein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Asyl zu.

Dem Kläger droht in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne von Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). [...]

Das Gericht ist auf der Grundlage des Vortrags des Klägers davon überzeugt, dass ihm im Falle einer Rückkehr die konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung droht.

Der Kläger hat – insbesondere in seiner Anhörung bei dem Bundesamt – die Geschehnisse lebensnah und mit Einzelheiten versehen plausibel und überzeugend vorgetragen. Danach sind die Taliban in der Nacht des 09.09.2015 in das Haus der Familie des Klägers eingedrungen und haben den Vater des Klägers mitgenommen. Anlässlich dieses Überfalls ist der Kläger von drei Taliban mit dem Messer verletzt und schließlich
vergewaltigt worden.

Nach Einschätzung des Gerichts muss der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan unmenschliche Behandlung insbesondere in Form schwerer körperlicher Gewalt (so insbesondere Verletzungen mit einem Messer) durch die jetzt landesweit herrschenden Taliban befürchten.

Die Beweiserleichterung gemäß Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kommt hier dem Kläger zugute, da der Kläger vor seiner Ausreise von einem ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG bereits unmittelbar betroffen war. Das Gericht kann im Rahmen der freien Beweiswürdigung keine stichhaltigen Gründe für eine Widerlegung der gesetzlichen Vermutung erkennen. Es liegen gerade nach der  Machtübernahme der Taliban im August 2021 keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich die Situation – auch im Heimatdistrikt des Klägers – in Afghanistan seit der Ausreise des Klägers im Hinblick auf die Bedrohungssituation – Gewaltausübung durch die Taliban gegenüber der Zivilbevölkerung – geändert hätte.

Für den Kläger besteht ferner keine inländische Fluchtalternative. Auch insoweit kommt dem Kläger die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU zugute (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 05. Mai 2009 – 10 C 21/08 –, Rn. 25, juris).

Die Gefahr von gewalttätigen Übergriffen der Taliban gegenüber dem der Volksgruppe der Hazara angehörigen Kläger ist angesichts der landesweiten Machtübernahme durch die Taliban im ganzen Land virulent. Gerade im Zuge der Machtübergreifung durch die Taliban kam es in den Hazara-Gebieten, wie auch in anderen Gebieten des Landes, zu willkürlichen Erschießungen, Folter und anderen Menschenrechtsverbrechen durch Taliban-Kämpfer (vgl. dazu Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, 31.10.2021, S. 19, mit weiteren Nachweisen). [...]