VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 05.11.2021 - 6 K 2518/17.A - asyl.net: M30289
https://www.asyl.net/rsdb/m30289
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine vor Zwangsehe geflüchtete Afghanin:

1. Eine Frau, die sich der durch die Familie arrangierten Zwangsehe entzieht und stattdessen einen anderen Mann heiratet, verstößt gegen die in großen Teilen Afghanistans herrschenden moralischen Vorstellungen. Eine Verfolgung durch die betroffenen Familien kann auch viele Jahre nach der Flucht aus der Ehe bzw. dem Ehebruch erfolgen.

2. Personen, die gegen den Sittenkodex verstoßen und Ehebruch begehen, droht in Afghanistan zudem staatliche Verfolgung durch die Taliban.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, soziale Gruppe, Ehebruch, Zwangsehe, Zina, Racheakte, Fehde, Familiäre Verfolgung, Sittenkodex,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

21 Der Klägerin droht Verfolgung im Sinne der §§ 3 Abs. 1, 3a AsylG. Insoweit kann hier offen bleiben, ob sie bereits vor ihrer Ausreise Verfolgungshandlungen ausgesetzt war. Denn das Gericht ist davon überzeugt, dass der Klägerin jedenfalls im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan solche individuellen, flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungshandlungen wegen des von ihr begangenen Ehebruchs drohen würden.

22 Die Klägerin hat glaubhaft kontinuierlich und in Übereinstimmung mit den Angaben ihres Ehemannes in der mündlichen Verhandlung zu dem ebenfalls bei Verwaltungsgericht Cottbus anhängigen Verfahren VG 6 ... vorgetragen, dass sie bereits im Alter von ca. 15 Jahren mit einem deutlich älteren Mann verheiratet wurde, der sie schlecht behandelte und auch gewalttätig ihr gegenüber war. Glaubhaft und auch im Einzelnen nachvollziehbar hat sie geschildert, wie sie während dieser Ehe ihren heutigen Ehemann kennenlernte und mit diesem eine (auch) sexuelle Beziehung einging, was ihr damaliger Ehemann entdeckte. Die Klägerin hat insoweit lebensnah und plausibel Einzelheiten zum Kennenlernen ihres jetzigen Mannes per Telefon, zu den kurzen Treffen an ihrer Haustür und zu den Umständen der Entdeckung der Beziehung durch ihren damaligen Ehemann vorgetragen. Insbesondere die Ausführungen zu Letzterem sind überzeugend. Frei von Widersprüchen und Übertreibungen berichtete die Klägerin, wie sie ihren Geliebten im Glauben darauf, dass sich ihr Ehemann mit den übrigen Familienmitgliedern auf einer Feier aufhalte, zu sich nach Hause bestellte, sie dort im Schlafzimmer miteinander intim wurden, dabei von dem unerwartet zurückkehrenden Ehemann erwischt wurden und ihrem heutigen Mann noch die Flucht durch das Schlafzimmerfenster gelang. Im Kern besehen auch keine Zweifel daran, dass sich der damalige Ehemann in Absprache mit ihren Brüdern am nächsten Tag in einer Moschee hat scheiden lassen und die Klägerin anschließend bis zu ihrer Flucht wie eine Gefangene in deren Haus leben musste. Ebenso ist plausibel, dass ihre Brüder aufgrund der Brautwerbung der Eltern ihres heutigen Ehemannes schließlich auch von dessen Identität als Ehebrecher Kenntnis erlangt haben.

23 Das Gericht ist ebenso davon überzeugt, dass der Klägerin aufgrund des begangenen Ehebruchs mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch ihren ehemaligen Ehemann und ihre Brüder droht, da der Ehebruch von diesen und ihren Familien als Ehrverletzung aufgefasst wird.

24 So gilt nach der Erkenntnislage Ehebruch bzw. außerehelicher Geschlechtsverkehr, bezeichnet als Zina, sowohl nach afghanischem Gewohnheitsecht als auch nach der Scharia als schweres moralisches Verbrechen und wird mit drakonischen Strafen bedacht (vgl. hierzu und zu Folgendem: ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Außereheliche sexuelle Beziehungen und deren Konsequenzen nach paschtunischem Gewohnheitsrecht, einschließlich der Rolle der Dschirgas, 7.11.2018, S. 1 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr, 2.10.2012, S. 1 ff). Eines Zina-Vergehens bzw. –Verbrechens kann sich sowohl der Mann wie auch die Frau schuldig machen und beide werden bestraft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2021, S. 13). Die Bestrafungen treffen aber Frauen und Mädchen in stärkerem Ausmaß und auch die Strafe ist für diese häufig härter (vgl. EASO, Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020, S. 79; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Außereheliche sexuelle Beziehungen und deren Konsequenzen nach paschtunischem Gewohnheitsrecht, einschließlich der Rolle der Dschirgas, 7.11.2018, S. 2; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 88). Sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe werden darüber hinaus von der afghanischen Gesellschaft weithin als Entehrung der Familie angesehen (vgl. Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 24. Mai 2016 zu Afghanistan: Besondere Gefährdung von Frauen, S. 3). Insbesondere Frauen und Mädchen, welche die Familienehre in dieser Weise verletzen, droht Gewaltanwendung bis hin zu Ehrenmorden (vgl. EASO, Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020, S. 53 u. 79; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 84 f., 90; EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 55). Da sie in Afghanistan als Trägerinnen der Familienehre gesehen werden, müssen sie, wenn sie gegen Bräuche, Traditionen oder Ehre verstoßen, die Konsequenzen dafür tragen (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, Fn. 480). So dokumentierte die unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission (AIHRC) für die ersten 10 Monate des Jahres 2020 bspw. 167 Morde an Frauen, bei denen es sich hauptsächlich um Ehrenmorde gehandelt haben soll (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2021, S. 13).

25 Das Gericht hat keinen Grund daran zu zweifeln, dass auch der Klägerin eine solche Gewaltanwendung droht. Nach ihren glaubhaften Angaben sowohl gegenüber dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung, hat ihr ehemaliger Ehemann bis zu ihrer Flucht mehrfach telefonisch damit gedroht, sie umzubringen. Ebenso glaubhaft hat die Klägerin entsprechende Bedrohungen durch ihre Brüder geschildert. Dass möglicherweise keiner der Vorgenannten versucht hat, in der Zeit vor ihrer Flucht die verbalen Drohungen in die Tat umzusetzen, steht dem nicht entgegen. So ist das Gericht nämlich nicht davon überzeugt, dass das von der Klägerin zwar glaubhaft und widerspruchsfrei geschilderte Erfasstwerden von einem PKW auf dem Weg zu einem Arzt tatsächlich im Zusammenhang mit dem begangenen Ehebruch stand. Vielmehr kann es sich hierbei ebenso um einen gewöhnlichen Verkehrsunfall mit anschließender Fahrerflucht gehandelt haben. Ebenso wenig ist das Gericht davon überzeugt, dass es bereits in der Türkei zu einer konkreten Verfolgung der Klägerin und ihres Ehemanns gekommen ist. Der von der Klägerin geschilderte Vorfall auf einem dortigen Basar stellt aus Sicht des Gerichts kein hinreichend konkretes Verfolgungsgeschehen dar. Allerdings kann beides hier dahinstehen. Denn nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist das Gericht davon überzeugt, dass sich ein auf einer Ehrverletzung beruhender Racheakt auch noch Jahre nach dem eigentlichen Vergehen ereignen kann (vgl. zu solchen Fällen: EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, Fn. 428 u. 890; vgl. insoweit auch zur möglichen Dauer sog. Blutfehden: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 111; EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 96) und auch der Klägerin weiterhin ein solcher Racheakt durch ihren ehemaligen Ehemann oder ihre Brüder droht.

26 Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch eine staatliche Verfolgung seitens der nunmehr dort herrschenden Taliban drohen würde. Denn diese haben sowohl während ihrer ersten Herrschaft als auch vor dem nunmehrigen Machtwechsel in den von ihnen kontrollierten Gebieten unmenschliche bzw. besonders drastische Strafen für Ehebruch oder andere Zina-Vergehen verhängt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2021, S. 14; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 16.9.2021, S. 61). Diese reichten von Auspeitschungen bis hin zu Hinrichtungen durch Steinigung (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2021, S. 14; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 90). Solche menschenrechtswidrigen Strafen sind als Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu qualifizieren. Die Klägerin wäre insoweit auch einer realen Verfolgungsgefahr ausgesetzt. Das Gericht geht insoweit davon aus, dass die Klägerin im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan als Rückkehrerin aus dem westlichen Ausland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wenigstens eine Befragung bzw. Überprüfung durch Taliban-Kräfte zu erwarten hätte, bei der ebenso wahrscheinlich die Gründe ihrer Flucht aufgedeckt werden würden. Denn das bereits aufgrund ihrer Flucht bestehende Misstrauen der Taliban der Klägerin gegenüber wird sich durch ihren mehrjährigen Aufenthalt in Deutschland weiter verfestigt haben, so dass sie in besonderem Maß deren Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde (so auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 8 November 2021 – 5a K 6226/17.A -, juris Rn. 48). [...]

29 Vorliegend gehört die Klägerin der bestimmten, abgrenzbaren sozialen Gruppe afghanischer Frauen an, denen wegen Ehebruchs bzw. außerehelichen Geschlechtsverkehrs, bezeichnet als Zina, eine Verfolgung droht. (vgl. VG München, Urteil vom 14. Juli 2017 – M 18 K 17.30384 -, juris Rn. 28; VG Würzburg, Urteil vom 20. Februar 2018 – W 1 K 16.32644 -, juris Rn. 24; für von Ehrenmord bedrohte Frauen allgemein: Marx, AsylG, 10. Aufl., § 3b Rn. 53; für Irak: VG Braunschweig, Urteil vom 30. Juli 2021 – 2 A 275/18 -, juris Rn. 36; vgl. für (auch) von Zwangsverheiratung betroffene Frauen: VG Hannover, Urteil vom 3. März 2020 – 7 A 1787/20 -, juris Rn. 35 ff.; VG Potsdam, Urteil vom 7. April 2021 – 13 K 1838/17.A -, juris S. 13; VG Würzburg, Urteil vom 14. März 2019 – W 9 K 17.31742 -, juris Rn. 31; VG München, Urteil vom 25. April 2017 – M 26 K 16.34294 -, juris Rn. 27; die Existenz einer solchen Gruppe offen lassend: VG Cottbus, Urteil vom 7. Juli 2020 – 3 K 1464/17.A -, juris Rn. 36; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 12. März 2020 – 7 K 133/16.A -, n. v.; eine solche Gruppe ablehnend: VG Leipzig, Urteil vom 5. Juni 2018 – 8 K 1787/17.A -, juris S. 6). Bei Frauen, denen Zina-Vergehen vorgeworfen werden, besteht eine deutlich nach außen abgegrenzte und von der afghanischen Gesellschaft als andersartig empfundene Identität. Denn aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel droht diesen nicht nur die Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung und Gewalt durch Familienangehörige, sondern insbesondere auch gesellschaftliche Ächtung (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 73; Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 24. Mai 2016 zu Afghanistan: Besondere Gefährdung von Frauen, S. 11), da sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe von weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft als Schande für die Familie oder die Gemeinschaft betrachtet werden (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 82). Zwar können auch Männer Stigmatisierung und Verfolgung wegen Zina-Anschuldigungen ausgesetzt sein (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 90; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2021, S. 13). Wie bereits dargelegt trafen Bestrafungen aufgrund von Zina-Vergehen jedoch schon in der Vergangenheit in überproportionaler Weise Frauen und Mädchen und auch die Strafe war für diese häufig härter als für Männer. Es ist davon auszugehen, dass sich dies aufgrund der Machtübernahme der Taliban nicht nur fortsetzen, sondern sogar noch verstärken wird. Denn kennzeichnend für deren erste Regierungszeit von 1996 bis 2001 war eine tiefgreifende Diskriminierung und Entrechtung von Frauen und Mädchen (vgl. hierzu UK Home Office, Country Policy and Information Note Afghanistan: Fear of the Taliban, Oktober 2021, S. 35). Zudem sind Frauen und Mädchen als Trägerinnen der Familienehre in unverhältnismäßig hohem Maße von sogenannten Ehrenmorden betroffen (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, 84 f.). Mithin liegt eine geschlechtsspezifische Verfolgung vor.

30 Wirksamer Schutz vor dieser flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgung ist nicht ersichtlich. Die Taliban, als nunmehrige staatliche, afghanische Akteure, wären weder in der Lage noch gewillt, die Klägerin vor einer Verfolgung durch ihren ehemaligen Ehemann oder ihre Brüder zu schützen (§§ 3c Nr. 3, 3d AsylG). Vielmehr droht der Klägerin - wie oben dargelegt – auch von deren Seite Verfolgung. [...]