VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 29.11.2021 - 5 A 192/20 MD - asyl.net: M30290
https://www.asyl.net/rsdb/m30290
Leitsatz:

Kein Widerruf des Abschiebungsverbots für Mann aus Afghanistan:

Vor dem Hintergrund der nur noch sehr eingeschränkten Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit in Afghanistan liegt die Annahme, dass der Rückkehrer das Existenzminimum in Afghanistan erreichen wird, nur dann nahe, wenn der Rückkehrer trotz der zu verzeichnenden Binnenfluchtbewegungen Aufnahme und Versorgung in einem erreich­baren familiären Netzwerk finden kann und/oder über umfangreiche finanzielle Mittel verfügt, was allerdings selbst nach Einschätzung des Bundesamtes nur noch in Einzelfällen der Fall sein dürfte (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan vom 22. Oktober 2021, S. 14).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Afghanistan, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, humanitäre Gründe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer, Arbeitslosigkeit, Existenzminimum, faktischer Iraner, Schiiten, Taliban, freiwillige Ausreise, familiäres Netzwerk,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

17 Unter Beachtung dieser Maßstäbe erweist sich der Widerrufsbescheid im Ergebnis als rechtswidrig, da der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG hat. [...]

20 Ein solcher Ausnahmefall ist für den Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan anzunehmen. Dabei geht das Gericht nach den vorliegenden - aktuellsten - Erkenntnismitteln davon aus, dass die Übernahme der faktischen Regierungsverantwortung inklusive der Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung die Taliban vor Herausforderungen stellt, auf die sie kaum vorbereitet sind. Leere öffentliche Kassen und die Sperrung des afghanischen Staatsguthabens im Ausland sowie internationale und US-Sanktionen gegen Mitglieder der Übergangsregierung haben zu Schwierigkeiten bei der Geldversorgung, steigenden Preisen und Verknappung essentieller Güter geführt (Bericht über die Lage in Afghanistan des Auswärtigen Amtes vom 22. Oktober 2021, S. 6).

21 Afghanistan war bereits vor der Machtübernahme der Taliban eines der ärmsten Länder der Welt. Die bereits vor der Machtübernahme der Taliban angespannte wirtschaftliche Lage hat sich weiter verschlechtert. Zahlreiche Haushalte, die von Gehältern im öffentlichen Dienst oder im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit oder von Tätigkeiten bei internationalen Akteuren abhängig waren, haben ihre Einkommensquellen verloren (Bericht über die Lage in Afghanistan des Auswärtigen Amtes vom 22. Oktober 2021, S. 5). Den eingeschränkten Erwerbsmöglichkeiten und dem gesunkenen Lohnniveau stehen erhöhte Lebensunterhaltungskosten bzw. Nahrungsmittelpreise gegenüber. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um 17 % stiegen. Aufgrund verschiedener Maßnahmen haben sich die Preise mit Stand März 2021 zwar wieder stabilisiert, dies allerdings auf einem nach wie vor hohen Niveau, das - bezogen auf Weizen - 11 % über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag (International Organization for Migration, Information on the socio-economic situation in the light of COVID-19 in Afghanistan, March 2021, S. 7; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 9. April 2021, S. 15). Nach der Machtübernahme der Taliban hat sich diese Situation weiter verschlechtert. Besonders besorgniserregend ist die Lebensmittelknappheit. Die bereits zuvor angestiegenen Lebensmittelpreise sind aufgrund der instabilen politischen Lage, Dürre und Wasserknappheit weiter angestiegen (UK Home Office, Country Policy and Information Note, Afghanistan: Security and humanitarian situation, Version 8.0, October 2021, S. 44 f.; Human Rights Watch, Afghanistan: Humanitarian Crisis Needs Urgent Response, 3. September 2021). Anfang Oktober 2021 wurde berichtet, dass sich die Nahrungsmittelpreise seit Mitte August verdoppelt hätten (BAMF, Briefing Notes vom 4. Oktober 2021, S. 2). Die International Crisis Group geht davon aus, dass die Lebensmittel in vielen Städten knapp werden. In Kabul, wo Arbeitsplatzverluste und wachsende Inflation es noch schwieriger gemacht hätten, Lebensmittel und andere Waren zu erwerben, sei der Druck für die Bevölkerung besonders groß. Die Preise für Gemüse auf dem Kabuler Markt sollen danach um 50 % gestiegen sein (International Crisis Group, Afghanistan’s Growing Humanitarian Crisis, 2. September 2021). Andere Quellen verweisen sogar auf eine Preissteigerung bis zu 63 % für Waren wie Mehl, Öl, Bohnen und Gas (Save the Children, Afghanistan: Price Hikes Push Food Out Of Reach For Millions Of Children, 24. August 2021). Die durch die Folgen der COVID-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaftslage steht damit in Folge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps. Rückkehrende verfügen aufgrund des gewaltsamen Konflikts und der damit verbundenen Binnenflucht der Angehörigen nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (Bericht über die Lage in Afghanistan des Auswärtigen Amtes vom 22. Oktober 2021, S. 14). Ab November 2021 ist mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung von akuter Ernährungsunsicherheiten betroffen (Bericht des OCHA "Afghansitan - Weekly Humanitarian Update", 18 - 24 October 2021, S. 2). [...]

24 Zwar mögen die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auch unter Berücksichtigung der vorstehend dargestellten Entwicklungen nach wie vor nicht für jeden Rückkehrer erfüllt sein; Aufgrund der Lage nach der Machtübernahme durch die Taliban, die maßgeblich durch einen nahezu vollständigen Kollaps des wirtschaftlichen Lebens geprägt ist, ist zur Überzeugung der Einzelrichterin aber jedenfalls eine besonders sorgfältige Prüfung dahingehend geboten, ob es dem Asylantragsteller im Falle einer Rückkehr tatsächlich gelingen wird, in Afghanistan ein Leben wenigstens am Rande des Existenzminimums zu führen. Vor dem Hintergrund der nur noch sehr eingeschränkten Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit liegt eine entsprechende Annahme insbesondere dann nahe, wenn der Rückkehrer trotz der zu verzeichnenden Binnenfluchtbewegungen Aufnahme und Versorgung in einem erreichbaren familiären Netzwerk finden kann und/ oder über umfangreiche finanzielle Mittel verfügt, was allerdings selbst nach Einschätzung des Bundesamtes nur noch in Einzelfällen der Fall sein dürfte (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan vom 22. Oktober 2021, S. 14).

25 Dies zugrunde gelegt ist für den Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzunehmen, da er weder in der Lage sein wird, sein Überleben durch Erwerbstätigkeit zu sichern, noch über ein erreichbares familiäres Netzwerk und/oder sonstige Vermögenswerte verfügt.

26 Angesichts des nahezu vollständigen Zusammenbruchs des wirtschaftlichen Lebens in Afghanistan sprechen zunächst stichhaltige Gründe für die Annahme, dass es dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nicht gelingen würde, sich durch Erwerbstätigkeit auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen, auch wenn er ein alleinstehender und junger Mann ist. Denn es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es ihm gelingen wird, sich gegenüber Einheimischen und Binnenflüchtlingen auf dem Tagelöhnermarkt - sofern dieser in seiner bisherigen Form überhaupt noch existieren sollte - in einer Weise durchzusetzen, die es ihm ermöglichten, sich zeitnah mit Nahrung und Obdach zu versorgen.

27 Der Kläger wird seine Existenz zudem auch nicht dadurch sichern können, dass er Aufnahme und Versorgung in einem familiären oder sozialen Netzwerk findet. Nach seinen unwidersprochen gebliebenen Angaben verfügt der Kläger über keine Kontakte mehr in Afghanistan. Er wird auch angesichts des Zusammenbruchs des Bankensystems keine Unterstützung seitens im Ausland lebender Familienmitglieder bekommen können.

28 Auch sonstige finanzielle und materielle Unterstützung hat der Kläger derzeit nicht zu erwarten, nachdem das internationale Hilfssystem ausweislich der geschilderten Erkenntnislage weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Soweit in jüngerer Zeit humanitäre Hilfsleistungen zugesichert wurden, steht die internationale Gemeinschaft vor der Herausforderung, den Menschen die benötigte Hilfe zukommen zu lassen, ohne dabei die Taliban zu unterstützen. Auch wenn bspw. die Bundesregierung beabsichtigt, die Mittel über die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen zu den Menschen zu bringen, so bleibt angesichts auch deren nur eingeschränkt möglichen Tätigkeit vor Ort offen, wann die Hilfen die Bevölkerung tatsächlich erreichen und wie sie gegebenenfalls verteilt werden. Zudem dürften auch insoweit jedenfalls "technische Gespräche" mit den Taliban erforderlich sein (so Außenminister Maas, vgl. www.n-tv.de/politik/Maas-sagt-Afghanistan-100-Millionen-Euro-zuarticle22801156.html.). Dies berücksichtigend sieht das Gericht kein Grund für die Annahme, dass sich die humanitäre Lage in Afghanistan aufgrund internationaler Hilfszahlungen zeitnah deutlich verbessern wird oder gar der Kläger des hiesigen Verfahrens von entsprechenden Hilfen unmittelbar profitieren könnte. [...]