VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 26.11.2021 - 1 A 31/21 - asyl.net: M30297
https://www.asyl.net/rsdb/m30297
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für alleinstehenden Mann ohne soziales Netzwerk:

Seit der Machtübernahme der Taliban hat sich die wirtschaftliche und humanitäre Lage in Afghanistan immens verschlechtert. Für einen jungen Mann ohne soziales Netzwerk und ohne eigene oder durch Dritte verfügbare finanzielle Ressourcen ist daher ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen, da aufgrund der wirtschaftlichen und humanitären Lage Menschenrechtsverletzungen nach Art. 3 EMRK drohen. An der Rechtsprechung des OVG Hamburg (Urteil vom 25.03.2021 - 1 Bf 388/19.A - asyl.net: M29750) ist deshalb nicht mehr festzuhalten.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezugnahme auf OVG Hamburg, Urteil vom 25.03.2021 - 1 Bf 388/19.A - asyl.net: M29750)

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, Taliban, humanitäre Gründe, alleinstehende Männer,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

35 Ausgehend von der erheblichen Verschlechterung der wirtschaftlichen und humanitären Lage in Afghanistan nach dem Sturz der Regierung durch die Taliban im August 2021 hält das erkennende Gericht nicht mehr an dem Grundsatz fest, dass – auch angesichts der Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie auf die humanitären Verhältnisse in Afghanistan – im Falle der Rückkehr eines jungen, erwachsenen, gesunden und alleinstehenden Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen dorthin die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK regelhaft nicht erfüllt sind (vgl. hierzu OVG Hamburg, Urt. v. 25.3.2021, 1 Bf 388/19.A, juris Rn. 52 ff. m.w.N.). Vielmehr legt das erkennende Gericht nunmehr zugrunde, dass auch ein junger, volljähriger, gesunder und alleinstehender Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen ohne hinzutretende begünstigende Umstände zur Sicherung seines Existenzminimums nicht in der Lage sein wird. Zu diesen begünstigenden Umständen gehört insbesondere ein erreichbares und hinreichend belastbares (familiäres) Netzwerk vor Ort. Die Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft des Netzwerks sind nach den zur Verfügung stehenden sachlichen Mitteln und personalen Mitteln zu beurteilen. In Betracht kommt insbesondere, welche Unterstützungsleistungen das Netzwerk in der Vergangenheit geleistet hat und in welcher Weise sich die Ressourcen des Netzwerks verändert haben (vgl. zur Beurteilung des Netzwerks: VG Hamburg, GB. v. 26.2.2021, 1 A 53/19, juris Rn. 52 f.).

36 Ein gegenüber gesunden und alleinstehenden Männern noch deutlich höheres Maß an Vulnerabilität weisen andere Gruppen von Rückkehrern auf, wie insbesondere Familien mit minderjährigen Kindern, Familien ohne ein erwachsenes männliches Mitglied sowie ältere oder kranke Menschen (OVG Hamburg, Urt. v. 25.3.2021, a.a.O., Rn. 193, 167 f.). Zurückkehrende Kernfamilien mit minderjährigen Kindern werden dabei regelmäßig der Unterstützung eines solchen Netzwerks vor Ort bedürfen, das etwa aufgrund überdurchschnittlicher Einkommens- und Vermögensverhältnisse zur Unterstützung im Einzelfall in der Lage ist (VG Hamburg, GB. v. 26.2.2021, a.a.O., Rn. 54; ebenso VGH München, Beschl. v. 17.12.2020, 13a B 19.34211, juris Rn. 26; Urt. v. 26.10.2020, 13a B 20.31087, juris Rn. 31). 37 Der Schutzsuchende trägt grundsätzlich für alle bei der Gefahrenprognose erheblichen Umstände die materielle Beweislast (BVerwG, Urt. v. 4.7.2019, 1 C 33/18, juris Rn. 27). Dies gilt auch bei Nichterweislichkeit behaupteter negativer Tatsachen wie der, dass er keinen Zugang zu einem tragfähigen und erreichbaren familiären oder sozialen Netzwerk habe (VGH Mannheim, Urt. v. 17.12.2020, A 11 S 2042/20, juris Rn. 111).

38 5. Gemessen daran liegen die Anspruchsvoraussetzungen zugunsten des Klägers vor. Ihm droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK eine unmenschliche Behandlung. Im Fall der Rückkehr nach Afghanistan könnte er in Abwesenheit besonderer begünstigender Umstände nicht einmal ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren.

39 Dies gilt unabhängig von der vom Kläger geltend gemachten Erkrankung an einer schweren Migräne, die er ohnehin nicht durch Vorlage geeigneter ärztlicher Atteste substantiiert dargelegt hat; so nennt das in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Attest lediglich eine Verdachtsdiagnose und enthält zu den konkreten Folgen der Erkrankung keine Ausführungen.

40 Der Kläger wird sich im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zur Sicherung seines Existenzminimums nicht auf ein hinreichend aufnahmebereites und belastbares familiäres Netzwerk in Afghanistan stützen können. [...]

41 Auch eine hinreichende Unterstützung des Klägers aus dem Ausland ist nicht ersichtlich. Die wirtschaftliche Lage der Verwandten im Iran ist nach Auskunft des Klägers ebenfalls schlecht, zumal der dort lebende Onkel mütterlicherseits bereits den Bruder des Klägers bei sich aufgenommen hat. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass im Falle einer Rückkehr auch die Mutter des Klägers auf weitere Unterstützung durch Verwandte angewiesen wäre.

42 Weitere begünstigende Faktoren für die Sicherung des Lebensunterhalts sind nicht ersichtlich. Insbesondere genügen die kaufmännische Arbeitserfahrung und Berufsausbildung des Klägers in Afghanistan und Deutschland vorliegend nicht, um die Prognose zu tragen, dass dem Kläger die Sicherung seines Existenzminimums in Afghanistan gelingen könnte. [...]