VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 02.09.2021 - 10 K 1873/16.A - asyl.net: M30324
https://www.asyl.net/rsdb/m30324
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für vor Zwangsheirat aus Somalia geflüchtete Frau

1. Eine drohende Zwangsheirat stellt eine flüchtlingsrelevante geschlechtsspezifische Verfolgung dar.

2. In Somalia besteht für Frauen kein Schutz vor geschlechtsspezifischer Verfolgung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Al Shabaab, Zwangsehe, Genitalverstümmelung, Frauen, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, Asylg § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Grundsätzen ist unter Berücksichtigung des insoweit glaubhaften Vorbringens der Klägerin im Laufe ihres Asylverfahrens und der eindeutigen Auskunftslage zur Situation von Mädchen und Frauen in Somalia ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung gegeben. [...]

Die Klägerin sollte insoweit nach alledem nach Auffassung des Gerichts eine Ehe mit einem Al Shabaab-Mitglied eingehen, wobei die Al Shabaab mit allen Mitteln ihre Ziele durchsetzt. Da sich die Klägerin einer Zwangsverheiratung entzog, muss sie im Falle einer Rückkehr nach Somalia damit rechnen, von den Angehörigen der Al Shabaab-Miliz bestraft zu werden, da sie nicht deren religiöser Vorstellung entsprochen hat (vgl. auch VG München, Urteil vom 20. August 2015, Az. M 11 K 14.31160). Sie stammt aus einem kleinen Dorf (...), insoweit kann sie auch leicht gefunden werden.

Ausgehend von der zugunsten der Klägerin als Vorverfolgten eingreifenden Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sie im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit weiterhin von der oben dargestellten Verfolgung bedroht ist.

Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen ist die Lage von Frauen und Mädchen in Somalia weiterhin besonders prekär. Sie bleiben den besonderen Gefahren der Vergewaltigung, Verschleppung und der systematischen Versklavung ausgesetzt. UN-Angaben zufolge nahm außerdem die Zahl sexueller Übergriffe in somalischen Flüchtlingscamps seit 2017 zu. Im Jahr 2018 waren 80 % der Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt Binnenvertriebene; nach Angaben von UNSOM scheint sich dieser Trend 2019 noch verstärkt zu haben. Nach Angaben von UNICEF wurden zwischen Januar und Juli 2020 insgesamt 4.324 Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt verzeichnet. Davon handelt es sich bei knapp der Hälfte der Vorfälle um Körperverletzung, bei 20% um Vergewaltigung, bei 17% um sexuelle Übergriffe und bei 5% um Zwangsheirat. Die Anzahl an Vorfällen weist einen signifikanten Anstieg zum Vorjahr auf, was vor allem mit den pandemiebedingten Maßnahmen der Regierung (z.B. Schulschließungen) und deren sozioökonomischen Auswirkungen zu erklären ist. Zudem ist davon auszugehen, dass die ohnehin schon große Dunkelziffer noch höher ausfällt als in den Vorjahren (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia vom 18. April 2021, Stand Januar 2021, im folgenden: AA 2021). Wirksamer Schutz gegen solche Übergriffe ist mangels staatlicher Autorität bisher nicht gewährleistet. Erwachsene Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen, häusliche Gewalt gegen Frauen ist weit verbreitet. Es hat sich aufgrund der anarchischen Zustände im Land eine Kultur der Gewalt etabliert, in der Männer Frauen unbestraft vergewaltigen können (AA 2021; Republik Osterreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Somalia, Stand: 20. November 2019). [...]