VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Beschluss vom 06.01.2022 - 3 E 1408/21 We - asyl.net: M30364
https://www.asyl.net/rsdb/m30364
Leitsatz:

Eilrechtsschutz für homosexuelle Person gegen Dublin-Überstellung nach Polen:

1. Homosexuellen Asylsuchenden droht in Polen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung im laufenden Asylverfahren eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, da ihr Schutzbedürfnis als besonders vulnerable Personen nicht berücksichtigt wird.

2. Durch die Entwicklung der letzten Monate wird ersichtlich, dass die gesellschaftlichen Ressentiments gegenüber Homosexuellen in Polen die Schwelle zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gemäß Art. 3 EMRK überschritten haben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Polen, homosexuell, besonders schutzbedürftig, Aufnahmebedingungen, Dublinverfahren, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Abschiebungsverbot,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, AufenthG § 60 Abs. 5, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, VwGO § 80 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßgaben überwiegt im Rahmen einer allgemeinen Interessenabwägung das Suspensivinteresse des Antragsstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin, weil die Entscheidung des Bundesamts, den Asylantrag des Antragstellers gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG für . unzulässig zu erklären und gemäß § 34a Abs. 1 AsylG seine Abschiebung nach Polen anzuordnen. Das Gericht konnte nach summarischer Prüfung im maßgeblichen Zeitpunkt weder feststellen, dass sich der angefochtene Bescheid als offensichtlich rechtmäßig, noch als rechtswidrig erweist und den Antragsteller damit voraussichtlich in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. [...]

Vorliegend erkennt das Gericht konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen von Umständen, die ausnahmsweise die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 Abs. 2 Spiegelstrich 2 Dublin III-VO begründen. Das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Polen weisen derzeit systemische Mängel auf, die - jedenfalls nach summarischer Prüfung - so defizitär sind, dass sie im konkreten Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK bergen (vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, Az.: C 411/10, Az.: C-493/10 sowie N.S. / Secretary of State for the Home Department und BVerwG, Urteil vom 08.01.2019, Az.: 1 C 16/18- zitiert nach juris).

Das gemeinsame Europäische Asylsystem beruht auf dem "Prinzip gegenseitigen Vertrauens" bzw. dem "Konzept der normativen Vergewisserung', dass alle daran beteiligten Mitgliedstaaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, dem Protokoll von 1967 und in der Europäischen Menschenrechtskonvention finden (vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, Az.: C-411/10 - NVwZ 2012, 417 Rn. 79). Dies begründet zunächst die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.20.11, Az.: C-411/10 - NVwZ 2012, 417 Rn. 80). [...]

Vorliegend gelang es dem Antragssteller, die unionsrechtliche Vermutung zumindest teilweise widerlegen, da dem Gericht aktualisierte Erkenntnisse zur Verfügung stehen, dass infolge Gleichgültigkeit polnischer Behörden eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person (hier: der Antragsteller) sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. [...]

Sofern in den vergangen Jahren bis Sommer 2020 die herrschende Rechtsprechung festgestellt hat, dass das polnische Asylverfahren und die dortigen Aufnahmebedingungen mit Blick auf die Situation von Dublin-Rückkehrern keine systemischen Mängel aufweisen (vgl. u.a. VG Regensburg, Beschluss vom 05.022020, Az.: RO 12 S 20.50020; VG Würzburg, Beschluss vom 03.01.2020, Az.: W 8 S 19.50825; VG Augsburg, Beschluss vom 21.05.2019, Az.: Au 6 S 19.50444; BayVGH, Urteil vom 19.01.2016, Az.: 11 B 15.50130, VG Düsseldorf, Urteil vom 21.07.2020, Az.: 22 K 8760/18.A -; alle zitiert nach juris), teilt das Gericht diese Auffassung in Anbetracht der jüngsten politischen Ereignissen vorerst nicht mehr.

Der Antragssteller gilt als homosexueller Mann als vulnerable Person (vgl. MedHealthCare Philos, Perihan Elif Ekmekci, 20.09.2017; VG Würzburg, Urteil vom 01.07.2019, Az.: W 8 K 19.30264). Bei vulnerablen Personengruppen sind die polnischen Behörden zwar verpflichtet, unmittelbar nach Antragstellung zu prüfen, ob diese spezielle Bedürfnisse haben. Antragsteller mit besonderen Bedürfnissen sind entsprechend unterzubringen. Spezielle Bedürfnisse bestehen aber nur dann, wenn ein Antragsteller behindertengerecht, in einer medizinischen Einrichtung, in einer auf psychosoziale Betreuung spezialisierten Einrichtung oder in einem Einzelzimmer für alleinstehende Frauen mit Kindern untergebracht werden muss bzw. angepasster Ernährung bedarf (vgl. VG Trier, Urteil vom 24.08.2020, Az.: 7 K 203/20.TR, Rn. 36 - zitiert nach juris). Ausdrücklich keine Erwähnung finden Menschen anderer sexueller Orientierung.

In der polnischen Gesellschaft etablierten sich schon vor einiger Zeit LGBTQI-feindliche Strömungen (vgl. Amnesty International, Report, Polen 2019 vom 16. April 2020). Dies genügt für sich allein nicht für die Annahme eines Abschiebungsverbotes. Jedoch wird durch die Entwicklung der letzten Monate ersichtlich, dass die gesellschaftlichen Ressentiments gegenüber Homosexuellen in Polen die Schwelle zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK überschritten hat. Schon im Spätsommer 2021 nahmen die Berichterstattungen über schärfere Rhetorik der polnischen Regierung gegenüber sexuellen Minderheiten und der Androhung von Repressalien gegen diese erheblich zu [...]. Maßgeblich ist die dortige Stimmung gegenüber Menschen mit sexueller Orientierung (wie der Antragssteller) geprägt von Hetzerei, nicht zuletzt durch politische ultra-konservative Extremisten wie Kaja Godek vorangetrieben und schließlich unterstützt durch die Regierungspartei und das Staatsoberhaupt Andrzej Duda. Zwar gibt es einerseits auch erhebliche Gegenbewegungen, die sich für die Rechte und Interessen der Geächteten einsetzen, sollte jedoch der Gesetzesentwurf der EU-skeptischen Führungspartei Prawo i Sprawiedliwość vom Oktober 2021 (mit dem Inhalt Propaganda und Zensur sexueller Minderheiten) in näherer Zukunft Rechtsgültigkeit finden, muss der Antragssteller erhebliche Diskriminierungen fürchten, welche insbesondere eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Antragstellers ergeben durfte. Darüber hinaus ist fraglich, ob der polnische Staat derzeit (noch) schutzbereit ist. Denn sofern er jedenfalls im Frühjahr 2020 noch Schritte eingeleitet, um insofern auftretende Rechtsverletzungen zu untersuchen, zu verfolgen und zu bestrafen […], werden nunmehr weite Teile des Landes vom schwulen- sowie LGBTQI-feindlichen Tenor der europafeindlichen Regierungspartei geprägt, so dass jüngst die europäische Union ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen einleitete (vgl. EURACTIV, www.euractiv.de/section/europakompakt/news/eu-vertragsverletzungsverfahren-gegen-polen-und-ungarn-wegen-lgbtq-diskriminierung/ Stand: 16.07.2021).

Im Übrigen liegen dem Gericht über die jüngsten Ereignisse und Entwicklungen noch keine Erkenntnisquellen vor. Eine tiefgründige Prüfung dahingehend bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Die Erfolgsaussichten sind mithin nach summarischer Prüfung nicht festzustellen. Wenn und soweit die Erfolgsaussichten in der Hauptsache im Rahmen der nur gebotenen summarischen Prüfung nicht abschließend beurteilt werden können bzw. offen erscheinen, kann im Rahmen der Abwägung ebenfalls bedeutsam sein, ob dem öffentlichen Vollzugsinteresse im Hinblick auf Allgemeinwohlbelange besonderes Gewicht beizumessen ist oder ob die Aufrechterhaltung des Sofortvollzuges bis zur Entscheidung in der Hauptsache eine für die Antragstellerseite unzumutbare Härte bedeuten würde.

Im Rahmen der konkreten gerichtlichen Interessenabwägung sprechen die gewichtigeren Argumente für das Supensivinteresse des Antragstellers und gegen das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Weil die Erfolgsaussichten weitestgehend offen sind und von der weiteren politischen Entwicklung des Landes Polen abhängig, ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Hauptsacheklage gegen die Anordnung der Abschiebung notwendig, um zu verhindern, dass der Antragssteller nach Polen abgeschoben wird, obwohl sich im Nachhinein herausstellt, dass ihre Behandlungen gegen Art. 3 EMRK. verstößt, was nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Der Antragsteller hat - gemessen an den Maßstäben im Eilverfahren - hinreichend glaubhaft gemacht, dass er homosexuell ist und damit einer sexuellen Minderheit angehört. Mit Schriftsatz vom 13.12.2021 legte er dem Gericht einen Nachweis vom 08.12.2021 vor, welcher die regelmäßige und engagierte Arbeit des Antragsstellers und seines Lebensgefährten im gemeinnützigen Verein Vielfalt ... belegte. Die gemeinnützige Vereinigung richtet sich speziell an Menschen mit lesbichen, schwulen, bisexuellen, trans*, intergeschlechtlichen sowie anderen sog. queere Hintergrund und bietet Integrations- und Hilfsangebote für Angehörige dieser Gruppen an. Damit gelang es dem Antragssteller im Eilverfahren konkrete Anhaltspunkte für die gerichtliche Annahme darzulegen, er unterhielte eine gefestigte und langfristige homosexuelle Orientierung, welche er zudem auch nach außen lebt.

Da die Abschiebung nur vorläufig außer Vollzug gesetzt wird, führt dies im Falle der Abweisung der Klage im Hauptsacheverfahren lediglich dazu, dass der Antragsteller dann vorübergehend in der Bundesrepublik bleiben konnte (vgl. BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 22.12.2002, Az.: 2 BvR 2879/09, Rn. 6 - zitiert nach juris). Zudem kann es der Antragstellerin als vulnerable Person nicht zugemutet werden, dass Hauptsacheverfahren (Az.: 7 K 424/21 We) aus Polen zu betreiben. [...]