VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.12.2021 - A 13 S 3196/19 - asyl.net: M30368
https://www.asyl.net/rsdb/m30368
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot hinsichtlich Somalias für einen jungen alleinstehenden Mann:

"1. Nach gegenwärtiger Erkenntnislage sind die allgemeine Sicherheitslage und die allgemeine wirtschaftliche und Versorgungslage in Somalia zwar als äußerst prekär einzustufen, sie führen aber bei einer wertenden Gesamtbetrachtung nicht dazu, dass eine Rückführung dorthin, insbesondere nach Mogadischu, in Anwendung von § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK generell ausgeschlossen wäre; vielmehr ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu prüfen, wie sehr die allgemeine Lage in Somalia den jeweiligen Kläger persönlich betreffen würde.

2. Zu einem Fall, in dem das individuelle Vorbringen des Klägers weitgehend als nicht glaubhaft anzusehen ist und in dem sich eine behauptete aktuelle schwerwiegende Erkrankung nicht hinreichend aus den vorgelegten ärztlichen Unterlagen entnehmen lässt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Somalia, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Mogadischu,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Hiervon ausgehend stellt sich für den Senat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung unter Zugrundelegung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel zur Lage in Somalia bei einer wertenden Gesamtschau die allgemeine Sicherheitslage in der Hauptstadt Mogadischu als dem mit Linienflügen anzufliegenden Zielort der Abschiebung nicht so dar, dass dort gleichsam jeder Rückkehrer einer realen Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre (zu dem hier maßgeblichen Zielort vgl. BayVGH, Urteil vom 12.02.2020 - 23 B 18.30809 - juris Rn. 57; Lagebericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia vom 18.04.2021, S. 24, im Folgenden: Lagebericht 2021).

Somalia hat den Zustand eines "failed state" überwunden, bleibt aber ein sehr fragiler Staat mit einer volatilen Sicherheitslage (siehe bereits VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.07.2019 a. a. O. Rn. 34 ff.). Es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind schwach und im Aufbau begriffen. Seit Anfang 2021 hat sich in Somalia eine schwere politische Krise zugespitzt. Etliche Aufgaben wie etwa die Überarbeitung der Übergangsverfassung, die Entwicklung eines Wahlsystems und die Durchführung von Neuwahlen wurden unter der Regierung des im Februar 2017 gewählten Präsidenten Farmajo nicht gelöst. So ist das Mandat des Parlaments im Dezember 2020, das des Präsidenten im Februar 2021 abgelaufen. Damit verfügt Somalia derzeit über keine (durch Neuwahlen) legitimierte Regierung. Präsident Farmajo, der an seinem Amt festhält, wird von einer starken oppositionellen Gruppe nicht anerkannt. Zwischen dem Lager des Präsidenten und den Angehörigen der Opposition ist es im Februar und April 2021 in Mogadischu zu Kampfhandlungen gekommen. Unterschiedliche Fraktionen haben sich hierbei verschiedene Teile Mogadischus "gesichert". Hawiye-Milizen der Opposition - zum Teil Soldaten der somalischen Armee - hatten große Teile der Stadt unter Kontrolle genommen, rund 200.000 Menschen haben die Stadt verlassen. Anfang Mai 2021 wurden rund drei Viertel der Stadt von der Opposition kontrolliert, während sich die in der Stadt befindlichen Farmajo-loyalen Kräfte maßgeblich aus - irregulären - Einheiten der NISA zusammensetzten. Im Verlauf des Sommers 2021 kam es zum Zerwürfnis und anschließenden  Machtkampf zwischen dem Präsidenten Farmajo und dem inzwischen für die Wahlen zuständigen Premierminister Roble. Es ist jederzeit möglich, dass die Anhänger der verschiedenen Lager zu den Waffen greifen. Als Nutznießer dieser politischen Krise wird die islamische al-Shabaab Miliz gesehen, die in den befreiten Gebieten weiter regelmäßig Terroranschläge verübt und den angeschlagenen Staat auszuhöhlen versucht (zum Ganzen vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation - Somalia, Stand 21.10.2021, S. 6 ff., 47 ff., 119 ff., im Folgenden: BFA-Länderinformation). In vielen Gebieten der fünf föderalen Gliedstaaten Somalias und der Hauptstadt Mogadischu herrscht Bürgerkrieg (vgl. Lagebericht 2021, S. 4).

Zunächst erscheint eine quantitative Bewertung der Gefahrendichte in Mogadischu mangels belastbarer aktueller Zahlen zu den Einwohnerzahlen einerseits und der Opferzahlen in Hinblick auf das Tötungs- und Verletzungsrisiko andererseits kaum verlässlich möglich (vgl. BayVGH, Urteile vom 12.02.2020 a. a. O. Rn. 42 ff., 50 und vom 27.03.2018 - 20 B 17.31663 - juris Rn. 34; VGH Hessen, Urteile vom 14.10.2019 - 4 A 1575/19.A - juris Rn. 44 ff. und vom 01.08.2019 - 4 A 2334/18.A - juris Rn. 40 ff.).

Für Gesamtsomalia wird von monatlich durchschnittlich 260 bzw. 204 Vorfällen (vgl. UN, Security Council, Situation in Somalia, 10.08.2021, S. 2; BFA-Länderinformation, S. 31) ausgegangen und die Gefahrendichte im Rahmen einer Hochrechnung für das Jahr 2021 bei einer Gesamtbevölkerungszahl von rund 15,4 Millionen teils auf 1:19.083, teils auf 1:14.064 geschätzt (vgl. BFA-Länderinformation, S. 32 f.). Allerdings sehen andere Quellen die Gesamtbevölkerungszahl bei 16,4 Millionen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 44 Somalia, Humanitäre Situation, Stand 09/2021, S. 2, im Folgenden: Länderreport 44). Nach Angaben der United Nation Assistance Mission in Somalia (UNSOM) beträgt landesweit die Gesamtzahl der von Kämpfen oder Anschlägen betroffenen Zivilisten 964 (Getötete und Verletzte) im laufenden Jahr (Stand 17.11.2021), 600 (Getötete und Verletzte) im Zeitraum Januar bis August 2020, 591 (Getötete) und 868 (Verletzte) im Jahr 2019, 1.122 (Getötete und Verletzte) im Zeitraum Januar bis Oktober 2018, 2.078 (Getötete) und 2.507 (Verletzte) im Zeitraum Januar bis Oktober 2017 (für 2021: UNSOM, Statement by Special Representative of the Secretary-General James Swan to the Security Council on the situation in Somalia, 17.11.2021, abrufbar auf der Homepage von UNSOM; für 2019 bis 2017: Lageberichte des Auswärtigen Amts zu Somalia vom 18.04.2021, vom 04.03.2019 und vom 07.03.2018).

Nach einem anderen Ansatz wird für den Zeitraum Januar 2020 bis Juni 2021 von 4.820 Todesfällen ausgegangen, von denen allerdings der größte Teil (2.976 Fälle) auf Kampfhandlungen ("battles") zurückgeführt wird (vgl. EASO, COI-Report, Somalia, Security situation, Sept. 2021, S. 31, im Folgenden: COIReport). Speziell für die Region Banadir/Mogadischu werden bei einer geschätzten Einwohnerzahl von 1,65 Millionen (2014) bzw. 2,39 Millionen (2021) für den Zeitraum Januar bis Juni 2021 252 Vorfälle mit 272 Todesfällen und für das Jahr 2020 489 Vorfälle mit 429 Todesfällen berichtet, von denen allerdings wiederum ein großer Teil auf Kampfhandlungen zurückzuführen ist (vgl. COIReport, S. 90 ff.; s. a. BFA-Länderinformation, S. 50 f.). In der Region Banadir/Mogadischu wurden 629 Vorfälle mit 738 Todesfällen im Jahr 2019 und 780 Vorfälle mit 976 Todesfällen im Jahr 2018 verzeichnet (vgl. ACCORD - Somalia, Jahr 2019 u. Jahr 2018, Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project - ACLED, jeweils Stand 22.06.2020). Die hier genannten Zahlen erfassen aber nicht die verletzten Personen und geben auch keine exakte Auskunft zum Verhältnis von getöteten Zivilpersonen zu getöteten Bewaffneten. Auch ist von einer schwer abschätzbaren Dunkelziffer auszugehen, sodass die Zahlen insgesamt nur eingeschränkt belastbar erscheinen (s. a. COI-Report, S. 30 ff.; BFA-Länderinformation, S. 50 f.).

Trotz der aktuell zugespitzten politischen Krise und der gleichzeitig weiterhin hohen Bedrohung durch die al-Shabaab ist die allgemeine Sicherheitslage zwar unverändert als volatil und sehr angespannt zu bezeichnen, eine aus dem Rahmen der vorangegangenen Jahre ausbrechende Verschlechterung kann aber derzeit jedenfalls im Hinblick auf die Opferzahlen auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse nicht festgestellt werden. Noch vor zehn Jahren kontrollierte die al-Shabaab die Hälfte der Hauptstadt, die gleichzeitig Schauplatz heftiger Grabenkämpfe war. Verglichen hiermit hat sich die Lage für die Zivilbevölkerung seitdem verbessert (vgl. BFA-Länderinformation, S. 47). Auch wenn sich in der Stadt die Sicherheit verbessert hat, kann al-Shabaab aber nach wie vor Anschläge durchführen; fast täglich kommt es zu Zwischenfällen im Zusammenhang mit al-Shabaab. Al-Shabaab ist im gesamten Stadtgebiet präsent, dabei handelt es sich um eine verdeckte Präsenz und nicht um eine offen militärische. Relevante Verwaltungsstrukturen gelten als von al-Shabaab unterwandert und in Mogadischu betreibt al-Shabaab nahezu eine Schattenregierung: Betriebe werden eingeschüchtert und "besteuert", Schutzgeld gefordert und eigene Gerichte sprechen Recht (vgl. BFA-Länderinformation, S. 48 f.). Gleichwohl gilt es als höchst unwahrscheinlich, dass al-Shabaab die Kontrolle über Mogadischu zurückerlangt. Dies würde allenfalls dann drohen, wenn AMISOM aus Mogadischu abziehen würde. Derzeit besteht in Mogadischu kein Risiko, von al-Shabaab zwangsrekrutiert zu werden. Al-Shabaab führt in Mogadischu auch größere Sprengstoffanschläge durch, bei denen auch Selbstmordattentäter zum Einsatz kommen. Üblicherweise zielt al-Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates ("officials"), der ökonomischen und politischen Elite, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung, Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und Militärgebäude sowie Soldaten von Armee und AMISOM ab. Nicht alle Teile von Mogadischu sind bezüglich Übergriffen von al-Shabaab gleich unsicher. Ein ausschließlich von der Durchschnittsbevölkerung frequentierter Ort ist kein Ziel der al-Shabaab. Al-Shabaab greift Zivilisten nicht spezifisch an. Diese leiden auf zwei Arten an der Gewalt durch al-Shabaab: Einerseits sind jene einem erhöhten Risiko ausgesetzt, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von al-Shabaab als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden. Andererseits besteht für Zivilisten das Risiko, bei Anschlägen zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (vgl. BFA-Länderinformation, S. 48 f.).

Im Rahmen der gebotenen wertenden Betrachtungsweise ist damit insbesondere zu berücksichtigen, dass zu den zivilen Opfern zu einem nicht unerheblichen Teil Personen mit erhöhten Gefährdungspotentialen zählen dürften. Bedingt durch die von al-Shabaab verfolgte Strategie der asymmetrischen Kriegsführung und der strategischen Auswahl der Anschlagsziele waren und sind bestimmte Berufsgruppen wie Regierungsmitarbeiter, Angehörige von AMISOM, Mitarbeiter internationaler bzw. westlicher Organisationen, Angehörige der Sicherheitskräfte bzw. generell mit der Regierung zusammenarbeitende Personen, Angehörige der politischen und ökonomischen Elite, Deserteure, mutmaßliche Spione und Kollaborateure in besonderer Weise betroffen. Auch wenn die al-Shabaab einige Menschen in Somalia als "legitime Ziele" erachtet, gilt dies für die meisten Zivilisten nicht. Hierin sieht der Senat einen wesentlichen Punkt. Zivilisten können ihr Risiko, zufällig Opfer eines Anschlags ("zur falschen Zeit am falschen Ort") zu werden, zwar nicht ausschließen, zumindest aber minimieren, indem sie Gebiete oder Einrichtungen meiden, die von al-Shabaab bevorzugt angegriffen werden. Dazu gehören insbesondere Hotels und Restaurants, in denen Angehörige der Streitkräfte, Mitglieder oder Mitarbeiter der Regierung oder Mitarbeiter internationaler Organisationen verkehren, Regierungseinrichtungen sowie Stellungen und Stützpunkte von Regierungskräften und
AMISOM.

Nach alledem ist im Hinblick auf die in Mogadischu weiterhin bestehende ausgesprochen fragile Sicherheitslage auch zu berücksichtigen, dass die Gefährdungssituation von verschiedenen Umständen beeinflusst wird und sich die Angriffe der al-Shabaab nicht primär gegen die Zivilbevölkerung richten. Bei einer wertenden Gesamtbetrachtung hat damit die Intensität der Gewalt in Mogadischu noch keinen Grad erreicht, der als solcher für jeden rückkehrenden Zivilisten eine reale Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung begründen würde.

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht in seiner Rechtsprechung - anders als noch in seiner Entscheidung in der Sache "Sufi u. Elmi/Vereinigtes Königreich" vom 28.06.2011 a. a. O. - im Hinblick auf eine seitdem deutlich verbesserte Sicherheitslage nicht mehr davon aus, dass die Lage in Mogadischu dort jeden in der Stadt der echten Gefahr einer Behandlung aussetzt, die gegen Art. 3 EMRK verstößt, weshalb nunmehr jeweils im Einzelfall zu fragen ist, ob die persönlichen Umstände des jeweils Betroffenen so sind, dass dessen Rückführung nach Mogadischu Art. 3 EMRK verletzen würde (vgl. hierzu EGMR, Urteil vom 10.09.2015 a. a. O. Rn. 62 ff. m. w. N.). Dies steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, wonach das Niveau willkürlicher Gewalt in Mogadischu nicht so hoch ist, dass praktisch jede Zivilperson allein auf Grund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG oder einer realen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 - 1 C 11.19 - juris Rn. 23; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.07.2019 a. a. O. Rn. 45; OVG Bremen, Beschluss vom 26.10.2021 - 1 LA 301/20 - juris Rn. 18 ff.; BayVGH, Urteile vom 12.02.2020 a. a. O. Rn. 50, 58 ff., vom 12.07.2018 - 20 B 17.31292 - juris Rn. 22 ff. und vom 27.03.2018 a. a. O. Rn. 25 ff.; VGH Hessen Urteil vom 01.08.2019 a. a. O. Rn. 40 ff.; VG Frankfurt/Oder, Urteil vom 14.07.2021 - VG 2 K 498/17.A - BeckRS 2021, 26494 Rn. 20 und Gerichtsbescheid vom 03.12.2020 - VG 2 K 1688/15.A - juris Rn. 32, 40; VG München, Urteile vom 04.05.2021 - M 11 K 18.33548 - juris Rn. 25 ff. und vom 04.08.2020 - M 11 K 17.41381 - juris Rn. 29 ff., 41; VG Cottbus, Urteile vom 08.12.2020 - 5 K 2093/15.A - juris Rn. 56 ff. und vom 25.08.2020 - 5 K 2339/16.A - juris Rn. 41 ff., 58 ff.; VG Gießen, Urteil vom 29.06.2020 - 8 K 9875/17.GI.A - juris Rn. 39 ff.).

Bei dem Kläger liegen auch keine individuell gefahrerhöhenden Umstände vor, die dazu führen würden, dass dessen Abschiebung nach Mogadischu unter Sicherheitsaspekten Art. 3 EMRK verletzen würde. Solche ergeben sich nicht aus der vorgetragenen Fluchtgeschichte, da diese - wie bereits ausgeführt - insgesamt unglaubhaft ist. Solche Umstände folgen auch nicht aus der Situation des Klägers als Rückkehrer nach einem längeren Auslandsaufenthalt (auch) im Westen. In den letzten Jahren sind somalische Flüchtlinge - auch aus dem Westen - vermehrt nach Somalia zurückgekehrt; es ist kein Fall bekannt, in dem ein Rückkehrer von somalischen Behörden misshandelt worden wäre (vgl. BFA-Länderinformation, S. 246 ff.). Darüber hinaus gehört der Kläger nicht zu einem Kreis derjenigen Personen, die auf Grund ihres Berufes oder ihrer prominenten Stellung im Fokus der al-Shabaab stehen. Sofern im Fall seiner Rückkehr überhaupt eine Kontrolle durch die al-Shabaab stattfände, wären allenfalls das frühere oder heutige Verhalten des Klägers sowie dessen familiäre Verbindungen entscheidend dafür, ob er einem realen Risiko ausgesetzt wäre (zum Ganzen vgl. BayVGH, Urteile vom 12.02.2020 a. a. O. Rn. 51 ff. und vom 10.07.2018 - 20 B 17.31595 - juris Rn. 29; VGH Hessen, Urteil vom 01.08.2019 a. a. O. Rn. 49; OVG Niedersachsen, Urteil vom 05.12.2017 - 4 LB 50/16 - juris Rn. 51; VG München, Urteil vom 04.05.2021 a. a. O. Rn. 32; VG Minden, Urteil vom 04.11.2020 - 1 K 2163/18.A - juris Rn. 138 ff.). Außerdem gehört der Kläger nicht einem Minderheitenclan, sondern - wie er im Rahmen seines ersten Asylverfahrens selbst angegeben hat - einem Mehrheitsclan, den Hawiye/Habr Gedir, an, der in und um Mogadischu großen Einfluss hat (vgl. BFA-Länderinformation, S. 140: "herausragende Machtposition"; ACCORD, Clans in Somalia, 15.12.2009, S. 12 ff., 14: "dominieren in Mogadischu"; BayVGH, Urteil vom 12.02.2020 a. a. O. Rn. 30). Auch unter diesem Aspekt kann also kein gefahrerhöhender persönlicher Umstand in der Person des Klägers angenommen werden. Schließlich kann wegen seines weitgehend unglaubhaften Vorbringens zu seinen individuellen Umständen auch nicht davon ausgegangen werden, dass er in Mogadischu ohne Hilfe bzw. auf sich allein gestellt wäre. Vor allem unter Berücksichtigung seiner Angaben im Erstverfahren ist vielmehr wahrscheinlich, dass der Kläger trotz seiner mehrjährigen Abwesenheit bei einer Rückkehr nach Somalia Unterstützung durch seinen Clan und vor allem durch Familienangehörige erlangen kann. [...]

3. Der Kläger wäre bei einer Abschiebung auch durch die schlechten humanitären Bedingungen mit Blick auf die ihn in Mogadischu erwartende wirtschaftliche Lage und Versorgungsituation nicht der realen Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu jüngst unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Gerichtshofs der Europäischen Union die Voraussetzungen bezeichnet, unter denen die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung die Rechte des Schutzsuchenden aus Art. 3 EMRK gefährden. Dies ist dann der Fall, wenn er seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält bzw. - nach einer neueren Formulierung des Gerichtshofs der Europäischen Union - sich die betroffene Person "unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not" befindet, "die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre" (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.02.2021 - 1 C 4.20 - juris Rn. 65 m.w.N.; s.a. Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 - juris Rn. 12 m.w.N.; EGMR, Urteil vom 28.06.2011 a.a.O. Rn. 278 ff.). Ob wegen prekärer Lebensbedingungen eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Betracht kommt, hängt nicht nur von den allgemeinen Lebensverhältnissen im Zielstaat, sondern auch von den individuellen Umständen des Betroffenen ab; mithin bedarf es einer Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls.
Dabei sind eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung, einer adäquaten Unterkunft, zu sanitären Einrichtungen sowie die Möglichkeit der Erwirtschaftung der finanziellen Mittel zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse, gegebenenfalls unter Berücksichtigung von erreichbaren Hilfen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 17.12.2020 a.a.O. Rn. 22 ff., 114 ff. und vom 17.07.2019 a.a.O. Rn. 29; BayVGH, Urteil vom 12.02.2020 a. a. O. Rn. 56, 61). [...]

Auch wenn nach alledem in Somalia sowohl die allgemeine Sicherheitslage als auch die allgemeine wirtschaftliche und Versorgungslage als äußerst prekär einzustufen sind, bedeutet dies noch nicht, dass deshalb eine Rückführung nach Somalia, insbesondere nach Mogadischu, in Anwendung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK generell ausgeschlossen wäre; vielmehr ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu prüfen, wie sehr die allgemeine Lage in Somalia den jeweiligen Kläger persönlich betreffen würde (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.07.2019 a.a.O. Rn. 30, 44 ff.; BayVGH, Urteil vom 12.02.2020 a.a.O. Rn. 50, 58 ff.; VGH Hessen Urteile vom 14.10.2019 - 4 A 1575/19.A - juris Rn. 60 f. und vom 01.08.2019 a.a.O. Rn. 33 ff.; VG Frankfurt/Oder, Urteil vom 14.07.2021 a.a.O. Rn. 29 ff. und Gerichtsbescheid vom 03.12.2020 a.a.O. Rn. 35 ff.; VG München, Urteile vom 04.05.2021 a.a.O. Rn. 34 ff. und vom 04.08.2020 a. a. O. Rn. 41 ff.; VG Cottbus, Urteile vom 08.12.2020 a.a.O. Rn. 59, 62 ff. und vom 25.08.2020 a.a.O. Rn. 67 ff.; VG Minden, Urteile vom 01.12.2020 - 1 K 4736/18.A - juris Rn. 38 ff. und vom 04.11.2020 a.a.O. Rn. 59 ff., 88 ff.; VG Gießen, Urteil vom 29.06.2020 a.a.O. Rn. 55 ff.; VG Freiburg, Urteil vom 29.04.2020 - A 1 K 8214/17 - juris Rn. 52 ff.). Dabei ist - ggf. neben humanitärer Hilfe vor Ort und Rückkehrhilfen - vor allem zu berücksichtigen, dass in Somalia die - erweiterte - Familie inklusive des Sub-Clans oder Clans traditionell als soziales Sicherungsnetz fungiert und oftmals einen zumindest rudimentären Schutz bietet (vgl. Lagebericht 2021, S. 22; BFA-Länderinformation, S. 139 ff., 222 ff.; ACCORD, ecoi.net-Themendossier zu Somalia: Humanitäre Lage, 31.08.2021, S. 5; ACCORD, Somalia: Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer:innen; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure - Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 05.05.2021, 31.05.2021, insbes. S. 32 ff., 37, 40). Bei der gebotenen Gesamtschau aller - auch individuellen - Umstände des Einzelfalls vermag der Senat auch mit Blick auf die schlechte allgemeine wirtschaftliche und Versorgungslage in Somalia nicht zu erkennen, dass eine Abschiebung des Klägers nach Mogadischu diesen der tatsächlichen Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung aussetzen würde. [...]