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LG Freiburg

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Zitieren als:
LG Freiburg, Beschluss vom 17.01.2022 - 4 T 15/21 - asyl.net: M30379
https://www.asyl.net/rsdb/m30379
Leitsatz:

Fehlende Ermessensausübung bei Haftbeschluss (Ausreisegewahrsam):

1. Die Anordnung des Ausreisegewahrsams nach § 62b Abs. 1 AufenthG sieht eine Ermessensentscheidung des Gerichts vor. Das Freiheitsgrundrecht der Betroffenen und das staatliche Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung müssen dabei abgewogen werden. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe sind gemäß § 38 Abs. 3 S. 1 FamFG in der Entscheidung darzulegen.

2. Dass eine Abschiebungsmaßnahme mit einem hohen Organisationsaufwand verbunden ist, genügt insofern nicht. Mit von Betroffenen in der Anhörung vorgebrachten Argumenten muss sich das Gericht auseinandersetzen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Ermessen, Ausreisegewahrsam, Ermessensausübung,
Normen: AufenthG § 62b Abs. 1, FamFG § 38 Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

3. Der Feststellungsantrag ist auch begründet. Der Beschluss des Amtsgerichts 11.01.2021 hat den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt (§ 62 Abs. 1 FamFG).

a) Das Amtsgericht hat die Freiheitsentziehung des Betroffenen auf § 62b Abs. 1 AufenthG gestützt. § 62b Abs. 1 AufenthG sieht - im Gegensatz zur Vorbereitungs- oder Sicherungshaft (§ 62 Abs. 2 und 3 AufenthG) - eine gerichtliche Ermessensentscheidung vor. Dem Gericht ist es bei Anordnung des Ausreisegewahrsams daher - zusätzlich zur Prüfung und Feststellung der Anordnungsvoraussetzungen - auch abverlangt, dieses Ermessen auszuüben. Die Entscheidung über die Anordnung des Ausreisegewahrsams erfordert deshalb eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe sind zumindest in knapper Form in der Entscheidung darzulegen (§ 38 Abs. 3 S. 1 FamFG). Die Entscheidungsgründe müssen erkennen lassen, dass überhaupt eine Ermessensentscheidung stattgefunden hat und dass sie fehlerfrei, insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, erfolgt ist (BGH, Beschluss vom 20.04.2018 -  V ZB 226/17 = NVwZ-RR 2018, 746).

b) Diesen Anforderungen wird der Beschluss des Amtsgerichts vom 11.01.2021 nicht gerecht. Den Gründen des Beschlusses vom 11.01.2021 lässt sich nicht entnehmen, dass dem Amtsgericht bewusst war, dass es eine Ermessensentscheidung zu treffen hatte. Ausführungen dazu, dass das Amtsgericht den ihm zustehenden Ermessensspielraum gesehen hat, finden sich in den Gründen nicht. Soweit das Amtsgericht unter II.4 der Gründe feststellt, dass das Interesse an der Freiheitsentziehung das Freiheitsinteresse des Betroffenen überwiege, wird diese Feststellung letztlich nur davon getragen, dass vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 62b Abs. 1 Nr. 3 a) und d) AufenthG und dem hohen Organisationsaufwand für die Abschiebungsmaßnahme auf die Notwendigkeit der Anordnung des Ausreisegewahrsahms geschlossen wird. Darüber hinausgehende, konkret in der Person des Betroffenen begründete Umstände, die über das bloße Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen des Ausreisegewahrsams in § 62b Abs. 1 AufenthG hinaus in einer Abwägung mit dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen die Freiheitsentziehung gebieten würden, benennt die Entscheidung nicht. Auch mit der im Rahmen der persönlichen Anhörung durch den Betroffenen vorgebrachten Einwendung - namentlich, dass er bereits einen Passantrag eingereicht habe, der indes wegen der Corona-Pandemie nicht bearbeitet worden sei - setzt sich die amtsgerichtliche Entscheidung nicht auseinander. Eine auf den Einzelfall bezogene Ermessensausübung lässt all dies gerade nicht erkennen. [...]