VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 11.01.2022 - 21 L 640/21 V - asyl.net: M30398
https://www.asyl.net/rsdb/m30398
Leitsatz:

Kein Eilrechtsschutz in Visumsverfahren wegen Familiennachzug aus Afghanistan: 

1. Die Visumserteilung setzt grundsätzlich eine persönliche Vorsprache der Antragstellenden voraus, um die erforderlichen Erkenntnisse insbesondere über die Identität der betroffenen Personen zu gewinnen.

2. Eine Ausnahme kann nicht mit den langen Wartezeiten der Auslandsvertretung begründet werden, da diese nicht einem strukturellen Organisationsdefizit, sondern der besonderen Situation in Afghanistan geschuldet sind.

3. Auch mit der Machtübernahme der Taliban lässt sich ein Ausnahmefall nicht pauschal begründen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn eine Ausreise zu einer Auslandsvertretung in einem Nachbarstaat möglich ist. Vorliegend kann trotz zweier gescheiterter Versuche der Einreise nach Pakistan und der kürzlich erfolgten Entbindung der Antragstellerin nicht von einer Unmöglichkeit der Vorsprache bei der deutschen Botschaft in Islamabad ausgegangen werden. 

(Leitsätze der Redaktion)

Hinweis:

  • Beitrag des MIGAZIN vom 21.01.2022.
Schlagwörter: Afghanistan, Familienzusammenführung, Visum, persönliche Vorsprache, Identitätsklärung, Anordnungsanspruch, Islamabad, Botschaft, Auslandsvertretung,
Normen: VwGO § 123, AufenthG § 28, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 49 Abs. 5 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

5 Nach diesen Maßstäben haben die Antragsteller einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 1, 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO).

6 Als Anspruchsgrundlage für den begehrten Familiennachzug zu einem Deutschen kommt nur § 6 Absatz 3 in Verbindung mit den §§ 5, 27 und 28 AufenthG in Betracht. Die danach erforderlichen Voraussetzungen sind weder in Bezug auf die Identität der Antragsteller zu 1 und 3 noch in Bezug auf eine wirksam geschlossene Ehe zwischen der Antragstellerin zu 1 und dem Antragsteller zu 2 mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht.

7 1. Dass die Identität der Antragsteller zu 1 und 3 geklärt ist, wie es § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG voraussetzt, ist nicht in der erforderlichen Weise glaubhaft gemacht.

8 a. Nach der ständigen Rechtsprechung des Beschwerdegerichts der Kammer setzt die Entscheidung über die Visumerteilung eine vorherige persönliche Vorsprache der jeweiligen Antragsteller voraus, um die erforderlichen Erkenntnisse insbesondere über deren Identität zu gewinnen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. März 2019 - 3 L 67.17 - juris Rn. 5). Dies ergibt sich auch aus § 49 Abs. 5 Nr. 5 und Abs. 6a AufenthG. Nach § 49 Abs. 5 Nr. 5 AufenthG sollen bei jeder Beantragung eines nationalen Visums zur Feststellung und Sicherung der Identität die erforderlichen Maßnahmen durchgeführt werden. Solche Maßnahmen sind nach der Sonderregelung in § 49 Abs. 6a AufenthG das Aufnehmen von Lichtbildern und das Abnehmen von Fingerabdrücken. Nach der amtlichen Begründung dieser mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) eingefügten Vorschrift waren erkennungsdienstliche Maßnahmen bei der Erteilung von nationalen Visa zuvor nur bei Antragstellern aus konsultationspflichtigen Staaten und Staaten zulässig, bei denen Rückführungsschwierigkeiten bestanden. Mit der Änderung bzw. Ergänzung sollen im Rahmen der Erteilung nationaler Visa Lichtbilder und Fingerabdrücke von allen Drittstaatsangehörigen abgenommen werden, wobei andere in § 49 enthaltene Maßnahmen nicht unzulässig sein sollen. Mit dieser Beschränkung werde die Regelung gleichförmig zur VIS-Verordnung ausgestaltet, von der die auf Schengen-Recht beruhenden Kurzzeitvisa erfasst würden und die ebenfalls die Erhebung von Lichtbildern und Fingerabdrücken von Visumantragstellern aus allen Drittstaaten erfordere. Die Regelung sei im Übrigen im Hinblick auf die noch zu schaffende informationstechnische Infrastruktur für die Anwendung in der Praxis hinreichend flexibel. Sie gewährleiste zugleich, dass in Ausnahme- und Härtefällen auf die biometrische Erfassung von Visaantragstellern verzichtet werden kann (vgl. zum Vorstehenden BT-Drs. 16/5065, S. 179). Danach ergibt sich eindeutig eine Pflicht zur persönlichen Vorsprache, damit die vom Gesetz regelmäßig ("sollen") vorgesehenen Aufnahmen von Lichtbildern und Abnahmen der Fingerabdrücke vorgenommen werden können.

9 b. Es ist auch nicht (mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit) glaubhaft gemacht, dass von dem Erfordernis der persönlichen Vorsprache ausnahmsweise abgesehen werden könnte.

10 Mit der bloßen Vorlage von Passkopien kann eine hinreichende Identitätsklärung nicht erfolgen, zumal das Legalisationsverfahren in Afghanistan ausgesetzt ist und die Antragsgegnerin bei allen Visumanträgen zur Familienzusammenführung Urkundenüberprüfungen vornimmt (vgl. hierzu OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. August 2021 - OVG 6 S 25/21 - BA S. 3). Der bloße Einwand der
Antragsteller, im Visumhandbuch sei die Vorlage von Originalurkunden "nicht absolut zwingend" vorgesehen, genügt nicht den Anforderungen an eine Glaubhaftmachung der Identitätsklärung.

11 Ein Ausnahmefall liegt auch nicht im Hinblick auf die von den Antragstellern geltend gemachte lange Wartezeit seit Registrierung auf der Terminwarteliste (im Dezember 2019) vor. Diese beruht auf Kapazitätsengpässen der Auslandsvertretung, die der besonderen Situation in Afghanistan geschuldet sind und nicht einem strukturellen Organisationsdefizit der Antragsgegnerin. Hierzu wird Bezug genommen auf die Ausführungen des Beschwerdegerichts der Kammer mit dem bereits zitierten Beschluss vom 10. Dezember 2021 - 6 S 32/21 - (BA S. 4 bis 6). Abgesehen davon haben die Antragsteller zu 1 und 3 einen Vorsprachetermin im Oktober 2021 und erneut im November 2021 erhalten, die sie aus von der Antragsgegnerin nicht zu vertretenden Gründen nicht wahrnehmen konnten.

12 Schließlich ist ein Ausnahmefall auch nicht im Hinblick auf die von den Antragstellern geltend gemachte Machtübernahme der Taliban gegeben. Dass den Antragstellern zu1 und 3 eine Ausreise nach Pakistan zwecks persönlicher Vorsprache bei der Botschaft in Islamabad unmöglich ist, haben die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, vielmehr gehen sie ausweislich ihres Schriftsatzes vom 20. November 2021 trotz zweier gescheiterter Grenzübergänge davon aus, dass eine Vorsprache in Islamabad grundsätzlich möglich ist, jedoch aufgrund der im Dezember 2021 erwarteten Entbindung der Antragstellerin zu 1 vorerst nicht in Betracht gekommen ist. Die Antragstellerin zu 1 dürfte mittlerweile entbunden haben, sodass ein Grenzübertritt – jedenfalls in absehbarer Zeit – auch unter der Annahme gewisser Strapazen für die Antragstellerin zu 1 und das neugeborene Kind möglich ist. Im Übrigen wäre das erstrebte Visum auch nur von Nutzen, wenn die Antragsteller zu 1 und 3 (und das neugeborene Kind) Afghanistan überhaupt verlassen könnten.

13 c. Die Antragsteller haben auch nicht glaubhaft gemacht, dass ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG vorliegt. Allein der Umstand der Deutschverheiratung oder der Geburt eines deutschen Kindes begründet für sich genommen keinen Ausnahmefall. Hinzu kommt, dass die Antragsteller zu 1 und 3 Originalunterlagen haben und bereit sind, persönlich bei der Auslandsvertretung unter Vorlage dieser Unterlagen zwecks Echtheitsprüfung sowie zwecks erkennungsdienstlicher Behandlung vorzusprechen, und die Antragsgegnerin bereit ist, ihnen hierzu erneut einen Vorsprachetermin zu gewähren.

14 2. Im Übrigen haben die Antragsteller nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht, dass die Antragstellerin zu 1 und der Antragsteller zu 2 eine formell wirksame Ehe im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG geschlossen haben. Auch insoweit genügt aus den vorstehenden Gründen die Vorlage einer bloßen Kopie der Eheurkunde nicht.

15 Bei dieser Sachlage bedarf es keiner Entscheidung mehr, ob die Antragsteller einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht haben. Zweifel daran bestehen, weil die Antragsteller nur pauschal auf die allgemeine Gefährdungssituation – insbesondere für Frauen – seit der Machtübernahme der Taliban verweisen (vgl. zu diesem Aspekt OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Dezember 2021, a.a.O., BA S. 7 f.) und weder ersichtlich noch geltend gemacht ist, dass die Antragstellerin zu 1 zwingend auf die Unterstützung des Antragstellers zu 2 bei der Versorgung des neugeborenen Kindes angewiesen ist, etwa weil sie keine Personen in Afghanistan hat, die sie unterstützen können. [...]