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VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 09.09.2021 - A 18 K 1708/19 - asyl.net: M30408
https://www.asyl.net/rsdb/m30408
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für eine Nigerianerin und ihr erkranktes Kind:

1. Die Blutkrankheit Sichelzellenanämie kann in Nigeria nicht ausreichend behandelt werden.

2. Für eine Mutter von drei Kindern, die weder über eine berufliche noch eine schulische Bildung verfügt und zudem nicht auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen kann, ist ein Abschiebungsverbot festzustellen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Nigeria, Sichelzellenanämie, medizinische Versorgung, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Mutter, Corona-Virus, EMRK, Kind, Kinder, Kleinkind, Kleinkinder, Frauen,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Nach den Erkenntnismitteln kann die Gesundheitsversorgung in Nigeria als mangelhaft bezeichnet werden. Zwischen Arm und Reich sowie zwischen Nord und Süd besteht ein erhebliches Gefälle. Auf dem Land sind die Verhältnisse schlechter als in der Stadt und im Norden des Landes ist die Gesundheitsversorgung besonders prekär. Die medizinische Versorgung ist vor allem im ländlichen Bereich vielfach technisch, apparativ und/oder hygienisch problematisch. Es gibt sowohl staatliche als auch zahlreiche privat betriebene Krankenhäuser. Rückkehrer finden in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor, die im öffentlichen Gesundheitssektor allerdings in der Regel unter europäischem Standard liegt. Der private Sektor bietet hingegen in einigen Krankenhäusern der Maximalversorgung (z.B. in Abuja, Ibadan, Lagos) westlichen Medizinstandard. Nahezu alle, auch komplexe Erkrankungen, köm1en hier kostenpflichtig behandelt werden. In größeren Städten ist ein Großteil der staatlichen Krankenhäuser mit Röntgengeräten ausgestattet, in ländlichen Gebieten verfügen nur einige wenige Krankenhäuser über moderne Ausstattung. In den letzten Jahren hat sich die medizinische Versorgung in den größeren Städten allerdings sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor deutlich verbessert. So ist mittlerweile insbesondere für Privatzahler eine gute medizinische Versorgung für viele Krankheiten und Notfälle erhältlich. Es sind zunehmend Privatpraxen und -kliniken entstanden, die um zahlungskräftige Kunden konkurrieren. Die Ärzte haben oft langjährige Ausbildungen in Europa und Amerika absolviert und den medizinischen Standard angehoben. Die medizinische Grundversorgung wird über die Ambulanzen der staatlichen Krankenhäuser aufrechterhalten, jedoch ist auch dies nicht völlig kostenlos, in jedem Fall sind Kosten für Medikamente und Heil- und Hilfsmittel von den Patienten zu tragen. In der Regel gibt es fast alle geläufigen Medikamente in Nigeria in Apotheken zu kaufen (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Nigeria, Amt für Fremdenverkehr und Asyl der Republik Österreich, Stand: 23.11.2020, S. 180 f.).

Nach den Erkenntnisquellen ist die Sichelzellenerkrankung des Klägers zu 2. eine häufig in Nigeria vorkommende Erkrankung. Nach Schätzungen sind ca. 40 Millionen Nigerianer Träger der Erkrankung. Jedes Jahr würden 150.000 Kinder mit einer Sichelzellenanämie in Nigeria geboren, von denen schätzungsweise 100.000 ihren fünften Geburtstag nicht erleben würden. Dies wird vor allem auf die Unwissenheit und dem fehlenden Zugang zu angemessener Diagnose und Versorgung zurückgeführt. Ausweislich einer im Jahr 2016 durchgeführten Studie, an der von insgesamt 129 öffentlichen sekundären und tertiären Krankenhäusern in Nigeria 31 Krankenhäuser teilgenommen haben, verfügte jede der teilgenommenen Einrichtungen über die notwendige Ausstattung für die Durchführung von Vollbluttransfusionen. Allerdings verfügten nur 14 dieser Krankenhäuser über notwendige Blutreserven. Keines der teilnehmenden Krankenhäuser verfügte über bestrahlte Blutprodukte. Zentral verwaltete Blutdatenbanken gab es in sechs der untersuchten Krankenhäuser. Auf die Frage, wie oft sie einen Patienten mit einer Sichelzellenerkrankung wegen Nichtverfügbarkeit einer Bluttransfusion abgewiesen hätten, haben 17 der 31 Krankenhäuser angegeben, dass dies ein- bis zweimal im Monat der Fall gewesen sei. Weitere sieben Krankenhäuser hätten angegeben, dass dies dreimal oder öfters vorgekommen sei. Fast alle Zentren, die an der Studie teilgenommen haben, gaben an, dass sie die Spender auf Hepatitis B und C oder HIV testen würden. Medizinisches Gerät für eine erweiterte Phenotypisierung oder ein Screening auf bestimmte Alloantikörper stand keiner Einrichtungen zur Verfügung. Eine weitere Studie aus dem Jahr 2019 kommt zusammenfassend zu ähnlichen Schlüssen. Bluttransfusionen seien demnach eine lebensrettende Therapie zur Behandlung von Komplikationen der Sichelzellenerkrankung, insbesondere in der Behandlung und der Prävention von Schlaganfällen und akutem Thorax-Syndrom. Das Haupthindernis für eine erfolgreiche Behandlung der Erkrankung stelle jedoch die Nichtverfügbarkeit von Transfusionen dar (vgl. ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Nigeria, Behandlung der Sichelzellenkrankheit; Fallzahlen, Behandlung, Kosten und Kostenübernahme, Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf das Gesundheitssystem vom 18.11.2020).

Demgemäß ist eine adäquate und fortwährende Versorgung des Klägers zu 2. in Nigeria nicht gewährleistet. Zwar ist die derzeit vom Kläger zu 2. zur Behandlung seiner Erkrankung eingenommene Medikation mit dem Wirkstoff Hydroxycarbamid in Nigeria verfügbar (vgl. UK-Home Office, Country Policy and lnformationNote Nigeria, Medical  and Healthcare lssues, Stand: 01.01.2020, Anlage A). Allerdings ist eine weitergehende Behandlung der Erkrankung, insbesondere im Falle einer Sichelzellenkrise, mit Bluttransfusionen in öffentlichen Krankenhäusern nach den beschriebenen Erkenntnissen nicht gewährleistet. Dies ist vorliegend jedoch lebensnotwendig, da nach den Ausführungen der behandelnden Ärzte des Klägers zu 2. im Rahmen der ergänzenden Stellungnahme vom 27.07.2021 infolge der klimatischen Bedingungen in Nigeria beim Kläger zu 2. die Gefahr des Eintritts einer Sichelzellenkrise besteht. Da hieraus ein Thorax-Syndrom, Schlaganfälle und weitere Organschäden folgen könnten, ist das Vorhandensein einer Bluttherapiemöglichkeit auch unverzichtbar. Erschwerend kommt in diesem Zusammenhang zum Tragen, dass beim Kläger zu 2. ausweislich des Befundberichts vom 10.01.2021 ein irregulärer antierythrotytärer, wärmewirksamer Alloantikörper der Spezialität Anti-M nachgewiesen wurde, welcher bei einer Transfusion zu beachteten ist. Nach den Erkenntnisquellen steht den öffentlichen Krankenhäusern das erforderliche Alloantikörperscreening jedoch nicht zur Verfügung.

Der Kläger zu 2. kann auch nicht auf die Inanspruchnahme von Privatkliniken in Nigeria verwiesen werden. Denn die komplexe Erkrankung des Klägers zu 2. bedarf einer regelmäßig wiederkehrenden Versorgung und Überwachung zur frühzeitigen Erkennung von etwaig eingetretenen Organschäden und zur Anpassung der erforderlichen Therapie. Die Klägerin zu 1. verfügt jedoch über zwei weitere Kleinkinder und über keine nennenswerte berufliche Qualifikation, so dass es ausgeschlossen erscheint, dass diese die Kosten für eine Behandlung ihres Sohnes in einer Privatklinik aufbringen können wird.

Vor diesem Hintergrund ist ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen. [...]

b) Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Nigeria sowie der persönlichen Situation der Klägerin zu 1. ergibt sich, dass die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erfüllt sind. [...]

cc) Gemessen daran besteht zugunsten der Klägerin zu 1. ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Denn angesichts der persönlichen Situation der Klägerin als Mutter von zwei gesunden Kleinkindern und dem an Sichelzellenanämie erkrankten Kläger zu 2., der bei lebensnaher Rückkehrprognose mit einzubeziehen ist, da auch er im Falle der Rückkehr seiner Eltern nach Nigeria ausreisen würde, sowie aufgrund der wirtschaftlich angespannten Lage in Nigeria aufgrund der Covid-Pandemie ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1. im Falle ihrer gemeinsamen Rückkehr mit ihrer Familie nach Nigeria in der Lage wäre, eine für sich und ihre Kinder existenzsichernde Tätigkeit aufzunehmen. Sie verfügt über keine nennenswerte Schul- und Berufsbildung, so dass sie auf die Ausübung von Tagelöhnertätigkeiten beschränkt wäre. Angesichts des Alters ihrer Kinder und der damit einhergehenden zeitlich beschränkten Arbeitsfähigkeit und dem kostenintensiven Versorgungsbedarf des Klägers zu 2. ist es ausgeschlossen, dass die Klägerin in Nigeria eine existenzsichernde Tätigkeit finden können wird, welche die Kosten für Wohnbedarf, Ernährung und medizinische Grundversorgung ihrer Familie deckt. Hinzu kommt, dass die Klägerin auch nicht auf nennenswerte familiäre Unterstützung zurückgreifen können wird, da die Familie väterlicherseits den Kontakt zu ihr wegen der unterlassenen Beschneidung abgebrochen hat und auch von der Familie ihres Lebensgefährten aufgrund der Erbschaftsstreitigkeit nicht mit einer Unterstützung zu rechnen ist. [...]