VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 05.11.2021 - 6 K 248/17.A - asyl.net: M30412
https://www.asyl.net/rsdb/m30412
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Mann wegen in Afghanistan als "Zina-Verbrechen" geahndetem Ehebruchs:

1. Männern, die des Ehebruchs beschuldigt werden, ist nicht die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da sie keine bestimmte soziale Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden. Denn eine drohende Verfolgung knüpft nicht an die Identität der Person, sondern an deren Verhalten an.

2. Ihnen ist jedoch subsidiärer Schutz zuzuerkennen, da ihnen Vergeltungsmaßnahmen durch die in Afghanistan verbliebene Familie drohen. Dass seit dem Ehebruch bereits mehrere Jahre vergangen sind, ändert daran nichts, da sich nach den Erkenntnismitteln Vergeltungsmaßnahmen noch Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen.

3. Die Taliban als nunmehr staatliche Akteure sind weder gewillt noch in der Lage, Betroffene zu schützen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie auch versuchen würden, sie zu verhaften und im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG menschenrechtswidrig zu behandeln.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Ehebruch, Asylrelevanz, Zina, subsidiärer Schutz, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßstäben hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. Der Kläger hat keine konkreten Umstände dargelegt, die darauf schließen lassen, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verfolgung wegen eines gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG relevanten Flüchtlingsmerkmals ausgesetzt wäre.

Im Kern beruft sich der Kläger darauf, dass er eine Liebesbeziehung mit einer verheirateten Frau eingegangen und von deren Ehemann erwischt worden sei und deshalb damit rechnen müsse, von diesem oder den Brüdern der Frau aus Rache bzw. verletzter Ehre getötet zu werden. Ebenso drohe ihm wegen des begangenen Ehebruchs eine Verfolgung durch die nunmehr in Afghanistan herrschenden Taliban. Eine ihm solchermaßen drohende Verfolgung stünde jedoch nach Auffassung des Gerichts in keinem Zusammenhang mit einem flüchtlingsrechtlich relevanten Merkmal. Insbesondere kann nach der Überzeugung des Gerichts nicht davon ausgegangen werden, dass die Taliban einem etwaigen Ehebrecher, der – wie der Kläger - sich selbst in keiner Weise am Kampf gegen die Taliban beteiligt und auch nicht für ausländische Organisationen oder die vorherige Regierung tätig war, aufgrund eines vermeintlich unmoralischen Verhaltens eine abweichende politische Überzeugung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG zuschreiben. [...]

Es kann darüber hinaus auch nicht angenommen werden, dass Männer, die des Ehebruchs bezichtigt werden, eine bestimmte soziale Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden, da eine deswegen drohende Verfolgung nicht an die Identität der Person, sondern an deren Verhalten anknüpft (vgl. VG Oldenburg, Urteil vom 15. April 2021 – 12 A 6778/17 -, juris, S. 7 d. EA; VG Dresden, Urteil vom 24. April 2019 – 11 K 1544/16.A -, juris Rn. 19). [...]

Der Kläger hat jedoch Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. [...]

Ihm droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) durch einen Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c AsylG. [...]

Vorliegend ist das Gericht davon überzeugt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Provinz Kabul eine unmenschliche Behandlung bis hin zur Ermordung durch den Exmann seiner Ehefrau oder deren Brüder droht. [...]

Nach der Erkenntnislage gilt Ehebruch bzw. außerehelicher Geschlechtsverkehr, bezeichnet als Zina, sowohl nach afghanischem Gewohnheitsrecht als auch nach der Scharia als schweres moralisches Verbrechen und wird mit drakonischen Strafen bedacht (vgl. hierzu und zu Folgendem: ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Außereheliche sexuelle Beziehungen und deren Konsequenzen nach paschtunischem Gewohnheitsrecht, einschließlich der Rolle der Dschirgas, 7.11.2018, S. 1 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr, 2.10.2012, S. 1 ff). Eines Zina-Vergehens bzw. –Verbrechens kann sich sowohl der Mann wie auch die Frau schuldig machen und beide werden bestraft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2021, S. 13). Zina gilt darüber hinaus in der afghanischen Gesellschaft als Familienehrverletzung der männlichen Familienmitglieder der Herkunftsfamilie der unverheirateten Frau, ggf. bei einer bereits verheirateten Frau auch deren Ehemanns. Es kann deshalb zu Gewalt bis hin zu Ehrenmorden durch ein Mitglied der in der Ehre verletzten Familie kommen (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 90; EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 55). Dabei droht nicht nur der Frau, welche gegen die sozialen Normen verstößt, ein Ehrenmord, sondern dies kann auch den Mann betreffen (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 74 u. S. 90; EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 56). Eine solche Blutrache wegen Zina ist in Afghanistan ein verbreitetes Phänomen, und kann in allen Regionen – auch in Städten - sowie zwischen allen Ethnien vorkommen (vgl. SFH, Blutrache und Blutfehde, 7.6.2017, S. 2 f.).

Es ist hier auch beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan solche Vergeltungsmaßnahmen drohen würden. Das Gericht hat aufgrund der in der mündlichen Verhandlung in Augenschein genommenen Videos keinen Zweifel, dass es bereits nach dessen Flucht aus Afghanistan zu erheblichen Bedrohungen des Klägers sowie seiner dort verbliebenen Familie gekommen ist und letztere auch bereits Gewalt erfahren hat. So ist auf einem der beiden Videos zu sehen, dass deren Wohnung verwüstet wurde. Hierzu berichtet eine Frau, bei der es sich nach Überzeugung des Gerichts um die Mutter des Klägers handelt, in die Kamera, dass in Abwesenheit der Familie Unbekannte in deren Wohnung eingedrungen seien, Möbel umgestoßen und alles durchsucht haben. Sie berichtet weiter, dass die Familie große Angst um ihr Leben habe und nicht wisse, wie es weitergehen solle. Sie weist den Kläger darauf hin, dass er zwar möglicherweise einen Menschen gerettet habe – gemeint sein dürfte insoweit nach Auffassung des Gerichts die Ehefrau des Klägers -, jedoch im Gegenzug seine gesamte Familie in große Gefahr gebracht habe. Auf dem anderen Video sind vier vermummte und schwer bewaffnete Männer in militärischer Kleidung zu sehen, die sich in einem Zimmer filmen und dabei unter Ansprache des Klägers ankündigen, diesen zu finden und hinzurichten. Ferner drohen die Männer, die Familie des Klägers zu töten. Im Übrigen werde man auf den Kläger warten.

Das Gericht ist davon überzeugt, dass die in diesem Video angekündigten Racheakte dem Kläger nach wie vor – d.h. trotz eines mehrjährigen Aufenthalts in Deutschland – drohen. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 111; EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 96). Es ist deshalb für die dem Kläger drohenden Gefahren auch unerheblich, dass es möglicherweise in der Zeit vor seiner Flucht noch zu keinem konkreten Angriff auf ihn gekommen ist. So ist das Gericht nämlich nicht davon überzeugt, dass der vom Kläger zwar glaubhaft und widerspruchsfrei geschilderte Überfall auf ihn im Fitnessstudio tatsächlich im Zusammenhang mit dem begangenen Ehebruch stand. Vielmehr kann es sich hierbei ebenso um einen gewöhnlichen, kriminellen Überfall gehandelt haben. Ebenso wenig ist das Gericht davon überzeugt, dass es bereits in der Türkei zu einer konkreten Verfolgung des Klägers und seiner Ehefrau gekommen ist. Die vom Kläger geschilderte Beobachtung durch Fremde auf einem Basar sowie die gefühlte Verfolgung auf dem Heimweg stellen aus Sicht des Gerichts kein hinreichend konkretes Bedrohungsgeschehen dar. Letztlich kann beides hier aber offen bleiben, da zur Überzeugung des Gerichts – wie bereits ausgeführt wurde - dem Kläger jedenfalls künftig eine konkret Gefahr in seiner Heimat drohen würde.

Vor dieser ihm durch den Exmann seiner Frau und deren Brüder als nichtstaatliche Akteure nach § 3c AsylG drohenden Gefahr wäre der Kläger auch durch den Staat nicht hinreichend geschützt (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. §§ 3c Nr. 3, 3d AsylG). Die Taliban, als nunmehrige staatliche, afghanische Akteure, wären weder in der Lage noch gewillt, den Kläger zu schützen. Würde er versuchen, bei deren Behörden Schutz zu suchen, wäre vielmehr damit zu rechnen, dass diese den Kläger wegen des ihm vorgeworfenen moralischen Verbrechens ihrerseits verhaften und ihm eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zukommen ließen. Denn die Taliban haben sowohl während ihres ersten Regimes als auch vor dem nunmehrigen Machtwechsel in den von ihnen kontrollierten Gebieten unmenschliche bzw. besonders drastische Strafen für Ehebruch oder andere Zina-Vergehen verhängt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2021, S. 14; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 16.9.2021, S. 61). Insoweit könnte dem Kläger sogar die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG drohen und damit ein weiterer Schutzgrund zur Seite stehen. Denn die sowohl während der ersten Talibanherrschaft als auch vor dem Zusammenbruch der Republik in von den Taliban kontrollierten Gebieten angewandte Rechtspraxis sah auf Grundlage einer strikten Auslegung der Scharia die Todesstrafe vor (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, Stand: 21.10.2021, S. 13). Dies kann hier aber offen bleiben, da dem Kläger, wie ausgeführt worden ist, jedenfalls eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung und damit ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG droht.

Auch auf inländische Fluchtalternativen (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 3e AsylG) kann der Kläger insoweit nicht verwiesen werden, seitdem die Taliban das gesamte Land unter ihrer Kontrolle halten. Davon abgesehen kann angesichts der derzeitigen humanitären Situation in Afghanistan vom Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden, sich dort niederzulassen. Es ist in Afghanistan kein Ort ersichtlich, an dem der Kläger in der Lage wäre, für sich und seine Familie ein die Gewährleistungen des Art. 3 ERMK wahrendes Existenzminimum zu erwirtschaften. Die aktuelle Wirtschafts- und Versorgungslage in Afghanistan ist so schlecht, dass selbst ein alleinstehender, gesunder und arbeitsfähiger, erwachsener Mann nur dann in der Lage ist, in Afghanistan sein notwendiges Existenzminimum sicherzustellen, wenn in seiner Person besondere begünstigende Umstände vorliegen. Insoweit wird auf die Ausführungen der Kammer in den zuletzt ergangenen Entscheidungen vom 2. November 2021 (- 6 K 1418/17.A -, S. 9 ff. d. EA) und vom 12.  November 2021 (- 6 K 708/17.A -, S. 7 ff. d. EA) verwiesen. Vorstehendes gilt umso mehr für den Kläger als Ehemann und Vater eines Kleinkindes. Denn bei lebensnaher Betrachtung ist davon auszugehen, dass die Familie gemeinsam nach Afghanistan zurückkehren würde, da sie auch in Deutschland gemeinsam lebt (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 -, juris Rn. 15 f.). Bei einer Rückkehr nach Afghanistan müsste der Kläger mithin nicht nur für sich selbst, sondern für den Unterhalt der gesamten Familie sorgen. Besondere begünstigende Umstände, die dies möglich erscheinen lassen, liegen nicht vor. Dieser verfügt über keine Erfahrung auf dem afghanischen Arbeitsmarkt, da er das Land bereits nach seinem Schulabschluss verlassen hat. Ebenso wenig verfügt dieser über ein erreichbares, unterstützungsfähiges Netzwerk in Afghanistan, da nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung der Kontakt zu seiner Familie abgebrochen ist. Auch verfügt er selbst nicht über ausreichendes Vermögen, das er zur Schaffung einer Lebensgrundlage in Afghanistan einsetzen könnte. Das Gericht ist deshalb nach dem gesamten Vorbringen im gerichtlichen Verfahren und auf Grundlage der aktuell vorliegenden Erkenntnisse in Bezug auf die humanitäre und wirtschaftliche Situation in Afghanistan davon überzeugt, dass es dem Kläger nicht gelingen würde, im Falle einer Abschiebung in Afghanistan seine und die Existenz seiner Familie sichern zu können. [...]