VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.01.2022 - A 4 S 108/22 - Asylmagazin 6/2022, S. 224 f. - asyl.net: M30415
https://www.asyl.net/rsdb/m30415
Leitsatz:

Zur Rücknahme der Zuerkennung subsidiären Schutzes:

"Die Rücknahme der Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 73b Abs. 3 i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG setzt eine gegenwärtige, konkrete und schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland voraus, die im Rahmen einer Einzelfallprüfung zu ermitteln ist."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: internationaler Schutz, subsidiärer Schutz, Rücknahme, schwere nichtpolitische Straftat, allgemeine Gefahr, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Prognose,
Normen: AsylG § 73b Abs. 2, AsylG § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Der auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gestützte Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. [...]

Mit Bescheid vom 13.05.2020 nahm das Bundesamt den mit Bescheid vom 03.04.2017 zuerkannten subsidiären Schutz zurück (Ziffer 1) und entschied, dass der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt wird (Ziffer 2). [...]

Auf die hiergegen erhobene Klage hob das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Urteil vom 17.11.2021, zugestellt am 22.11.2021, den Bescheid vom 13.05.2020 auf. [...]

II. Die Beklagte hat am 22.12.2021 die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache beantragt. [...]

Die von der Beklagten aufgeworfene Frage, "ob die Rücknahme der Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 73b Abs. 3 i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG eine gegenwärtige konkrete Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland voraussetzt", ist nicht grundsätzlich bedeutsam, weil sie sich in Verbindung mit höchstrichterlicher Rechtsprechung unmittelbar aus dem Gesetz beantworten lässt, d.h. als hinreichend geklärt anzusehen ist.

Gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG ist ein Ausländer von der Zuerkennung subsidiären Schutzes u.a. ausgeschlossen, "wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen", dass er "eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt". Diese Norm ist eine Umsetzung von Art. 17 Abs. 1 lit. d der Anerkennungs-Richtlinie 2011/95/EU, die ihrerseits ihre Wurzeln in der Genfer Flüchtlingskonvention hat. [...]

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs orientieren sich die Gründe für den Ausschluss vom subsidiären Schutzstatus an den auf Flüchtlinge anzuwendenden Regelungen (vgl. Art. 12 AnerkRL und § 3 Abs. 2 AsylG sowie Art. 1 lit. F GFK), sind ihrem Wesen nach vergleichbar und deshalb grundsätzlich auch vergleichbar auszulegen (EuGH, a.a.O. Rn. 43 ff.). Daraus folgt zum einen, dass die "Gefahr für die Allgemeinheit oder die Sicherheit der Bundesrepublik" gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG sich im polizeirechtlichen Sinne hinreichend wahrscheinlich realisieren und bei systematischer Auslegung wie die anderen Ausschlussgründe in Nr. 1 (Kriegsverbrechen), Nr. 2 (schwere Straftaten) und Nr. 3 (völkerrechtswidrige Handlungen) wohl auch auf zu erwartende Straftaten von "gewissem Gewicht" beziehen muss (vgl. Österreichischer VerfGH, Urteil vom 13.12.2011 - U1907/10 -, www.ris.bka.gv.at/Judikatur); typischerweise ist bei § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG an Kapitalverbrechen zu denken oder sonstige Straftaten, die in den meisten Rechtsordnungen als besonders schwerwiegend qualifiziert und entsprechend strafrechtlich verfolgt werden (vgl. zu Art. 12 Abs. 2 lit. b AnerkRL: BVerwG, Beschluss vom 14.10.2008 - 10 C 48.07 -, Juris Rn. 19). Dementsprechend bejaht die höchstrichterliche Rechtsprechung europaweit auch den Ausschlussgrund der "Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit des Mitgliedstaats" gemäß Art. 17 Abs. 1 lit. d AnerkRL regelmäßig nur bei zu erwartenden Delikten im Zusammenhang mit Terrorismus, Tötungsdelikten, Drogen- oder Waffenhandel (Nachweise bei EASO, Ausschluss: Art. 12 und 17 AnerkRL, 2016, S. 52 f. und EASO, Exclusion, 2020, S. 123 f.). Zum anderen folgt daraus, dass für die Annahme eines solchen Ausschlussgrundes immer "eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalles" vorzunehmen ist [...].

Ist nach diesen - bezüglich Art. 17 Abs. 1 lit. b AnerkRL und somit § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG maßgeblichen - Auslegungsvorgaben des EuGH für einen Ausschluss des subsidiären Schutzes immer eine aktuell bestehende, besonders schwerwiegende Gefahr im konkreten Einzelfall erforderlich, können die Anforderungen bei Art. 17 Abs. 1 lit. d AnerkRL und somit § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG nicht dahinter zurückbleiben und heißt dies zugleich, dass auch für eine Rücknahme der Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 73b Abs. 3 i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG immer eine solche gegenwärtige konkrete Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gegeben sein muss. Hierzu ist immer eine individuelle Betrachtung und Bewertung der von dem Ausländer ausgehenden Gefahren anzustellen. Primär ist - anders als bei § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG - nicht das Fehlverhalten in der Vergangenheit maßgeblich, sondern die zukünftige Gefährdung. Es ist eine ähnliche Gefahrenprognose anzustellen wie etwa im Rahmen einer Ausweisung. Diese erübrigt sich deshalb auch nicht automatisch nach rechtskräftiger Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder dem Ende des Strafvollzugs (vgl. Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 4 AsylG Rn. 17 f.).

Der Vortrag der Beklagten, richtiger Prüfungsmaßstab bei § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG sei, ob von dem Ausländer "weiterhin eine Gefahr ausgehe", ohne dass diese im Entscheidungszeitpunkt "konkret" sein müsse, kann vor diesem Hintergrund nicht überzeugen. Das Vorliegen etwa nur einer "abstrakten" oder "generellen" Gefahr, die bei einer Einzelperson kaum beurteilt werden kann (auch die Beklagte legt nicht weiter dar, wie dies geschehen sollte), kann nach der insoweit hinreichend eindeutigen Rechtsprechung insbesondere des EuGH für einen Ausschluss des subsidiären Schutzes nicht genügen. [...]