VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 07.12.2021 - 14 K 5589/17.A - asyl.net: M30416
https://www.asyl.net/rsdb/m30416
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Polizeioffizier aus Afghanistan:

1. Einem ehemaligen Polizeioffizier, der vor sechs Jahren Afghanistan nach Bedrohungen durch die Taliban verlassen hat, ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

2. Die Äußerungen der Taliban nach der Machtübernahme, ihre früheren Gegner hätten keine Racheakte zu befürchten, wurden bereits durch eine Vielzahl von Berichten konterkariert.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Berufsgruppe, Polizei, Taliban, Flüchtlingsanerkennung, Vorverfolgung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]
Der Kläger wäre im Fall der Rückkehr mit dem Tod, also von einer Verfolgungshandlung i. S. des § 3a AsylG bedroht. Er ist vorverfolgt ausgereist, sodass ihm die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 QRL zu Gute kommt. Die Vermutung kann nicht widerlegt werden. Aufgrund der von dem Kläger überreichten Dokumente und seinen Angaben beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger als Polizeioffizier tätig war und ernst zu nehmende Drohungen von der Taliban erhalten hat bzw. auch angegriffen wurde. Der Kläger hat glaubhaft, weil ausgesprochen detailliert, im Wesentlichen widerspruchsfrei, nachvollziehbar und ohne Steigerungen seine Erlebnisse geschildert.

Auch wenn seit der Ausreise des Klägers im Jahr 2015 sechs Jahre vergangen sind, liegen keine stichhaltigen Gründe vor, die die Vermutung, die Bedrohung des Klägers würde sich im Fall der Rückkehr wiederholen, widerlegen könnten. Zwar äußerte die "Führung" der Taliban direkt nach der Machtübernahme vor der Weltpresse, ihre früheren Gegner bzw. Personen, die für die internationalen Truppen gearbeitet hätten, hätten keine Racheakte zu befürchten (vgl. Afghan Analysts Network, The Taliban leadership converges on Kabul as remnants of the republic reposition themselves, 19.8.2021; vor der Machtübernahme zudem schon: Deutsche Welle, Taliban says Afghans who show "remorse" will be safe, 7.6.2021).

Diese Aussagen werden jedoch konterkariert durch eine Vielzahl von Berichten, nach denen es trotz.der von den Taliban verkündeten Amnestie in verschiedenen Landesteilen zu Massenhinrichtungen von früheren afghanischen Regierungsmitarbeitern und ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte gekommen sei. Es existieren Berichte, dass die Taliban anhand von Namenslisten gezielt Personen sucht, denen unterstellt wird, mit der früheren Regierung oder den US-Streitkräften zusammengearbeitet zu haben (vgl. Human Rights Watch, No forgiveness for people like you, Dezember 2021, EASO, Afghanistan, Security situation update, September 2021, S. 14 ff.; BAMF Briefing Notes, 30.8.2021, S. 1; Danish Immigration Service, Afghanistan, Recent Developments in the security situation, impact on civilians and targeted individuals, September 2021, S. 20 ff.; Ruttig, Hybris des Westens in Afghanistan, TAZ, 30.8.2021; zur "rigorosen Anwendung der Scharia" vgl. BAMF Briefing Notes, 27.9.2021, S. 1).

Belastbare Fakten, dass die Taliban vorverfolgt ausgereiste Personen nicht erneut verfolgen würden, existieren demnach nicht.

Die Verfolgungshandlung knüpft auch an einen Verfolgungsgrund an. Die Taliban schreiben dem Kläger eine entgegenstehende politische Überzeugung zu, § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG.

Interner Schutz nach § 3e AsylG steht dem Kläger nicht zur Verfügung. Im Fall des Klägers ist nach der Machtübernahme der Taliban nach der derzeitigen Erkenntnislage von einer landesweiten Verfolgung auszugehen. [...]