LG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
LG Frankfurt a.M., Beschluss vom 15.02.2022 - 2-29 T 15/22 - asyl.net: M30425
https://www.asyl.net/rsdb/m30425
Leitsatz:

Abschiebehaft wegen Pflege der Mutter rechtswidrig:

1. Bei der Anordnung von Abschiebehaft wegen Fluchtgefahr ist stets durch Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob tatsächlich Fluchtgefahr besteht. Betreut eine betroffene Person ein nahes Familienmitglied und hat dadurch eine erhebliche Verantwortung und Pflegeaufgabe für diese Person übernommen, erschüttert das eine gemäß § 62 Abs. 3a AufenthG bestehende Vermutung der Fluchtgefahr ganz erheblich.

2. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach Elternteile minderjähriger Kinder nur im äußersten Fall und nur für die kürzestmögliche angemessen Dauer in Abschiebehaft genommen werden dürfen, ist auf eine volljährige Person, die einen Elternteil aufgrund eines besonderen Vertrauensverhältnis pflegt, zu übertragen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, familiäre Beistandsgemeinschaft, Pflege, pflegebedürftig, Schutz von Ehe und Familie, Fluchtgefahr
Normen: AufenthG § 62 Abs. 3 Nr. 1, AufenthG § 62 Abs. 3a, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8,
Auszüge:

[...]

Im Rahmen der Anordnung von Abschiebehaft wegen Fluchtgefahr ist zudem stet durch eine Gesamtbetrachtung aller Umstände de Einzelfalls festzustellen, ob tatsächlich Fluchtgefahr vorliegt (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2021 - XIII ZB 2/20 -, Rn 10 m.w.N, juris). Dies war hier nach Ansicht der Kammer nicht der Fall.

Die Vermutung der Fluchtgefahr ist vorliegend insbesondere dadurch ganz erheblich erschüttert, dass die Betroffene ausweislich der vorliegenden ärztlichen Atteste sich als vorrangige Pflegeperson um ihre Mutter kümmert, die nach einer Hirnblutung unter einer leichten kognitiven Störung sowie ein insulinpflichtigen Diabetes mellitus und weiteren Einschränkungen leidet und in ihrer Mobilität eingeschränkt ist. Die Betroffene führt ausweislich der ärztlichen Unterlagen eine 24-Stunden Betreuung durch, [...]

Diese Umstände sprechen dafür, dass die Betroffene im Rahmen dieser familiären Beziehung eine ganz erhebliche Verantwortung und Pflegeaufgabe übernommene hat. Ferner sei ausweislich des ärztlichen Attests vom 18. Februar 2021 (BI. 97 d.A.) die Versorgung der Mutter im Falle einer Ausweisung der Betroffenen nicht gewährleistet. [...]

Darüber hinaus ist die angeordnete Abschiebehaft auch nicht verhältnismäßig.

Die Anordnung von Sicherungshaft nach § 62 Abs. 3 AufenthG ist nämlich nur dann verhältnismäßig, wenn die Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich ist und der mit ihr verbundene Eingriff nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht (BVerfG, lnfAuslR 2008, 358,359; BGH, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 127/10, NVwZ2010, 1318, 1319 Rn. 26; Beschluss vom 19. Mai 2011 - VZB 167/10, NVwZ 2011, 1216 Rn. 7).

Der BGH hat zur Anordnung von Abschiebehaft gegen einen Elternteil eines minderjährigen Kindes folgendes ausgeführt:

„Zwar ist die mit der Haft verbundene Trennung eines Elternteils von einem minderjährigen Kind grundsätzlich gerechtfertigt, wenn ein Haftgrund nach § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG vorliegt. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass die Haftanordnung bei einer gelebten Eltern-Kind-Beziehung nicht nur in das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), sondern zugleich in das Grundrecht auf den Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und das Recht auf den Schutz des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) eingreift. Bei solchen Beziehungen der Eltern zum minderjährigen Kindern ist die Abschiebungshaft daher nur im äußersten Fall und nur für die kürzestmögliche angemessene Dauer zulässig. (BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2013 - V ZB 214/12-, Rn. 12, juris)."

Diese Ausführungen sind auch auf den vorliegenden Fall übertragbar. Geschützt von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK ist nicht lediglich die Beziehung zwischen einem minderjährigen Kind und seinen Eltern, sondern auch die familiäre Beziehung zwischen volljährigen Kindern und ihren Eltern. Auch für diese Beziehung ist der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK grundsätzlich eröffnet.

Vorliegend handelt es sich auch um eine intensive und gelebte familiäre Bindung, die durch die Haft in erheblicher Weise eingeschränkt wird. Dies gilt hier insbesondere deshalb, weil die Mutter massiv pflegebedürftig ist und nach Aktenlage ein besonderes Vertrauensverhältnis ausschließlich zu der Betroffenen hat.

Auch der Umstand, dass die Mutter der Betroffenen noch mit weiteren Familienmitgliedern zusammenlebt, die möglicherweise ebenfalls die Pflege übernehmen könnten, führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Zunächst ist dem Antrag vom 11. Januar 2022 nicht zu entnehmen, um welche Familienangehörigen es sich handelt und ob diese aufgrund ihres Alters oder ihrer beruflichen Situation überhaupt in der Lage und bereit sind, eine so intensive Betreuung wie sie hier erforderlich ist, zu gewährleisten. Nach dem unbestrittenen Vortrag der Betroffenen handelt es sich bei diesen weiteren Familienmitgliedern um minderjährige Kinder, nicht mehr im Haushalt lebende oder berufstätige Personen. Auch die Schwester der Betroffenen kann nicht ohne weiteres die Pflege übernehmen, da sie berufstätig ist und vier teilweise noch minderjährige Kinder hat. Soweit die antragstellende Behörde ausführt, dass die Pflege der Mutter durch die weiteren Haushaltsmitglieder gewährleistet wäre, hat sie diese Umstände erkennbar nicht berücksichtigt.

In den Fällen einer so engen familiären Beziehung muss die Abschiebehaft auf die kürzest mögliche Dauer beschränkt werden. [...]