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OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Beschluss vom 19.11.2021 - 3 EO 167/21 - asyl.net: M30426
https://www.asyl.net/rsdb/m30426
Leitsatz:

Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis nach sechsmonatiger Abwesenheit ist gesetzliche Ausschlussfrist:

"Ist die Ausreisepflicht bereits kraft Gesetzes vollziehbar, so bedarf es für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung keines sofort vollziehbaren Grundverwaltungsaktes, wie die Feststellung des Erlöschens eines früheren Aufenthaltstitels (im Anschluss an VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Januar 1997 - 11 S 2934/96 - juris).

Für das Erlöschen des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG ist es grundsätzlich unbeachtlich, ob es dem Ausländer rechtlich oder tatsächlich unmöglich war, vor Ablauf der Sechs-Monatsfrist wieder in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen.

Die Regelung des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG bezweckt, aus dem Grund der Rechtsklarheit eine eindeutige Bestimmung darüber zu treffen, ob der Ausländer noch im Besitz des Aufenthaltstitels ist oder dieser erloschen ist. Es handelt sich insoweit um eine gesetzliche Ausschlussfrist, die nicht durch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 32 VwVfG) überwunden werden kann.

Eine "Nachsichtgewährung" auf der Grundlage von Treu und Glauben (§ 242 BGB) bei Fristüberschreitung der Sechs-Monatsfrist nach § 51 Abs. 1 Nr.7 AufenthG kann allenfalls zum Ausgleich besonderer Härten nach geringfügiger Fristüberschreitung oder in einem Fall höherer Gewalt bei außergewöhnlichen Ereignissen, die nach den Umständen des Falles auch durch die äußerste, dem Betroffenen zuzumutende Sorgfalt weder abgewehrt noch in ihren schädlichen Folgen verhindert werden könnten, in Betracht kommen (im Anschluss an:. Bayerischer VGH, Urteil vom 10. Januar 2007 - 24 BV 03.722 - juris Rn. 43 m. w. N.).

Auch im Rahmen der Anwendung des ARB 1/80 bestehen Erlöschenstatbestände (vgl. EuGH, Urteile vom 22. Dezember 2010 - Bozkurt, C-303/08 - juris Rn. 42 und vom 18. Juli 2007 - Derin, C-325/05 - juris Rn. 49 f.; Bayerischer VGH, Beschluss vom 4. Januar 2016 - 10 ZB 13.2431 - juris Rn. 9), wie es in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zum Ausdruck kommt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Erlöschen, Abschiebungsandrohung, Sechs-Monats-Frist, Höhere Gewalt, besondere Härte, Wiedereinreise, Ausreise, türkische Staatsangehörige, Türkischer Arbeitnehmer, Assoziationsberechtigte,
Normen: AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 7, ARB 1/80 Art. 14, ARB 1/80 Art. 41, AufenthG § 51 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 51 Abs. 4, AufenthG § 51 Abs. 10, AufenthG § 58 Abs. 1, AufenthG § 58 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

(1) Ein Aufenthaltstitel erlischt nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, wenn der Ausländer aus dem Bundesgebiet ausgereist ist und innerhalb von sechs Monaten oder einer von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist nicht wieder eingereist ist.

Der Antragsteller hat sich länger als sechs Monate im Ausland, nämlich ununterbrochen zumindest seit seiner Ausreise aus Deutschland spätestens am 1. Oktober 2013 (das ist das späteste Datum von verschiedenen Angaben des Antragstellers zu seinem Ausreisetag im Verwaltungs- und erstinstanzlichen Verfahrens; im Beschwerdeverfahren spricht er zumeist vom 28. Juli 2013) bis frühestens zum Zeitpunkt seiner Wiedereinreise am 12. Februar 2019 (zu diesem Datum hat er sich rückwirkend unter dem 21. März 2019 angemeldet, während aus seinem Pass eine Einreise am 14. Februar 2019 vermerkt ist). Damit war er zunächst bereits mehr als 5 Jahre aus der Bundesrepublik abwesend, ohne dass in diesem Zeitraum eine Verlängerung der Abwesenheitsfrist von ihm beantragt oder durch die Ausländerbehörde bestimmt wurde.

(2) Unbeachtlich ist, ob es insoweit dem Antragsteller rechtlich oder tatsächlich möglich war, vor Ablauf der Sechs-Monatsfrist, also vor dem 1. April 2014, wieder in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen.

Für die Rechtswirkungen der Ausreise nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob der Antragsteller in der Lage ist, die Dauer seiner Abwesenheit zu bestimmen. Sinn und Zweck der Erlöschensregelungen ist es, Rechtsklarheit hinsichtlich des Fortbestandes des Aufenthaltstitels zu schaffen, um so eine effektive Steuerung der Migration von Ausländern zu ermöglichen. Hält sich der Ausländer daher im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG länger als sechs Monate außerhalb des Bundesgebietes auf, wird grundsätzlich unwiderleglich angenommen, dass er aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund ausgereist und sein Aufenthaltstitel damit ebenfalls erloschen ist (vgl. zum Ganzen: Beschluss des Senats vom 23. Februar 2021 - 3 EO 786/20 - n. v.; BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2012 - 1 C 1.11 - juris Rn. 9). [...]

(5) Ferner ist im vorliegenden Fall auch nicht zu berücksichtigen, dass der Antragsteller nach seinen Angaben von den türkischen Behörden wegen eines Strafverfahrens an einer Ausreise gehindert worden sei. Wie bereits im streitgegenständlichen Bescheid vom Antragsgegner aufgezeigt, war - unabhängig von der Frage der Richtigkeit der Angabe des Antragstellers - der angegebene Tattag der 15. Dezember 2014. Vor diesem Tag kann der Antragsteller wegen der Tat nicht festgehalten worden sein. Zu diesem Zeitpunkt hielt er sich jedoch bereits mindestens 13 Monate in der Türkei auf. Damit greift allein deswegen die nach Ansicht des Antragstellers anzuwendende 12-Monatsfrist des § 51 Abs. 10 AufenthG nicht ein.

(6) Dem Antragsteller kann auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen des Ablaufs der Sechs-Monatsfrist von Amts wegen gewährt werden.

Die Regelung des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG bezweckt, aus dem genannten Grund der Rechtsklarheit eine eindeutige Bestimmung darüber zu treffen, ob der Ausländer noch im Besitz des Aufenthaltstitels ist oder dieser erloschen ist. Es handelt sich insoweit um eine gesetzliche Ausschlussfrist, die nicht durch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 32 VwVfG) überwunden werden kann, so dass insbesondere unerheblich ist, ob der Betroffene durch Krankheit oder Inhaftierung an einer Rückkehr nach Deutschland gehindert war (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 13. August 2009 - 10 ZB 09.1275 - juris Rn. 2; Hessischer VGH, Beschluss vom 16. März 1999 - 10 TZ 325/99 - juris Rn. 17).

Bei dem Antragsteller kommt zudem eine "Nachsichtgewährung" nicht in Betracht, selbst wenn man mit Teilen der Rechtsprechung einen solchen Aspekt berücksichtigt. Eine "Nachsichtgewährung" auf der Grundlage von Treu und Glauben (§ 242 BGB) kann danach allenfalls zum Ausgleich besonderer Härten nach geringfügiger Fristüberschreitung oder in einem Fall höherer Gewalt bei außergewöhnlichen Ereignissen, die nach den Umständen des Falles auch durch die äußerste, dem Betroffenen zuzumutende Sorgfalt weder abgewehrt noch in ihren schädlichen Folgen verhindert werden könnten, in Betracht kommen (vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 10. Januar 2007 - 24 BV 03.722 - juris Rn. 43 m. w. N.).

Den Antragsteller traf kein so außergewöhnliches Ereignis, dessen Folgen er auch bei äußerster Sorgfalt nicht hätte abwehren können. [...]

bb. Dem Erlöschenstatbestand stehen hier auch nicht die Bestimmungen des ARB 1/80 entgegen.

Zum einen unterfiel der Antragsteller vor seiner Ausreise 2013 dessen Regelungsbereich nicht, wie das Verwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 15. Februar 2021 zutreffend ausgeführt hat. Dies ist nicht ersichtlich und wird vom Antragsteller auch nicht substantiiert dargelegt. Es fehlt bereits ein Vortrag zu einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis bei einem Arbeitgeber, was über ein Jahr fortlief. Zeiten eigener Selbständigkeit werden vom ARB 1/80 nicht erfasst.

Zum anderen wäre davon auszugehen, dass selbst, wenn man von einem früher bestandenen Recht aus dem ARB 1/80 zugunsten des Antragstellers ausgehen würde, ein solches mittlerweile gleichfalls erloschen wäre. Auch im Rahmen der Anwendung des ARB 1/80 bestehen Erlöschenstatbestände (vgl. EuGH, Urteile vom 22. Dezember 2010 - Bozkurt, C-303/08 - juris Rn. 42 und vom 18. Juli 2007 - Derin, C-325/05 - juris Rn. 49 f.; Bayerischer VGH, Beschluss vom 4. Januar 2016 - 10 ZB 13.2431 - juris Rn. 9), wie es in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zum Ausdruck kommt. Das Bundesverwaltungsgericht zieht dabei als unionsrechtlichen Bezugsrahmen für das Erlöschen des Aufenthaltsrechts nach einer Ausreise, die Maßstäbe der Richtlinie 2003/109/EG (Daueraufenthaltsrichtlinie) heran (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. März 2015 - 1 C 19.14 - juris Rn. 21). Danach kommt für die Konkretisierung dieses Erlöschensgrundes der 12-Monatsfrist des Art. 9 Abs. 1 Buchst c der Daueraufenthaltsrichtlinie eine gewichtige Indizwirkung für die rechtsvernichtende Verlagerung des Lebensmittelpunkts zu. [...]

Soweit der Antragsteller sich auf Art. 41 des ARB 1/80 beruft, verschafft die sogenannte Stillhalteklausel kein eigenständiges Recht. Für die Anwendung der Stillhalteklausel kommt es nicht darauf an, ob sich ein türkischer Staatsangehöriger zu dem Zeitpunkt, zu dem er einen Antrag auf Niederlassung im Gebiet eines Mitgliedstaates stellt, rechtmäßig in diesem Staat aufhält oder nicht; entscheidend ist allein die Einreisesituation, in der er sich bei seiner Wiedereinreise in 2019 befunden hat. Zu diesem Zeitpunkt reiste er unrechtmäßig ein, weil er Aufenthaltsrechte, soweit jemals vorhanden, von Gesetzes wegen verloren hatte. [...]