VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 26.11.2021 - 8 K 1508/18.GI.A - asyl.net: M30427
https://www.asyl.net/rsdb/m30427
Leitsatz:

Keine Ableitung von Familienschutz vom nachgeborenen Kind:

1. Die Mutter eines in Deutschland geborenen und wegen drohender Genitalverstümmelung als Flüchtling anerkannten Mädchens hat keinen Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz. Sie selbst dann nicht den Familienschutz von ihrem in Deutschland geborenen Kind ableiten, wenn die Familie bereits im Land der Verfolgung bestanden hätte.

2.Einer alleinerziehenden Mutter mehrerer (Klein)kinder mit subsidiärem Schutzstatus in Malta droht in Malta keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, wenn sie dort mehrere Jahre gelebt hat, sich gut auskennt, ein soziales Netzwerk und guten Kontakt mit dem Vater ihrer Kinder hat (der in einem anderen europäischen Land lebt).

(Leitsätze der Redaktion, anders z.B. VG Cottbus, Gerichtsbescheid vom 14.01.2022 - 5 K 1985/16.A - asyl.net: M30444)

Schlagwörter: Malta, internationaler Schutz in EU-Staat, in Deutschland geborenes Kind, Flüchtlingsanerkennung, Familienschutz,
Normen: AsylG § 26
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Familienasyl nach § 26 Abs. 3 Satz 1 und 2, da die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU nicht schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird (§ 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG).

Nach Art. 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU bezeichnet der Ausdruck Familienangehörige die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat: [...]

– der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist.

Im vorliegenden Fall der Kläger fehlt es an der Voraussetzung, dass die Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, bereits im Herkunftsland bestanden hat. Die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist (sog. Stammberechtigte), ist die Tochter der Klägerin zu 1, die am … 2020 in ... geboren worden ist (im Folgenden: stammberechtigtes Kind). In den Fällen, in denen das stammberechtigte Kind des Asylantragstellers, welchem internationaler Schutz gewährt worden ist, nicht im Herkunftsland geboren, sondern nach der Ausreise aus dem Herkunftsland "nachgeboren" worden ist, kommt ein Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz für die Eltern des Kindes nach § 26 Abs. 3 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG nicht in Betracht (VG Würzburg, Urteil vom 29.08.2017 – W 4 K 17.31679; a.A. VG J-Stadt, Urteil vom 26.09.2018 – 7 K 3271/17; VG Freiburg, Urteil vom 09.10.2018 – A 1 K 3294/17; VG Sigmaringen, Urteil vom 19.05.2017 – A 3 K 3301/16, alle juris). Dies ergibt sich aus der Auslegung des Gesetzes nach den allgemein anerkannten Methoden.

§ 26 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Art. 2 Buchstabe j Spiegelstrich 3 RL 2011/95/EU regelt, dass der Vater, die Mutter oder ein anderer für das Kind verantwortlicher Erwachsener Teil der Familie des stammberechtigten Kindes ist. Die Klägerin zu 1 hat ihr Herkunftsland Somalia ohne weitere Familienangehörigen, insbesondere ohne den Vater der in Deutschland schutzberechtigten Tochter verlassen. Den Vater hatte sie erst während ihres Aufenthaltes auf Malta kennen gelernt. "Entstanden" ist das stammberechtigte Kind während eines Besuchs des Vaters 2019 in Deutschland. Aus der Alternativität der Aufzählung ("oder") ergibt sich, dass eine Familie im Sinne der Norm auch nur aus dem alleinerziehenden Vater, der alleinerziehenden Mutter bzw. dem alleinerziehenden anderen Erwachsenen und dem stammberechtigten Kind bestehen kann. Unter diesem Gesichtspunkt ist es unschädlich, dass die Klägerin zu 1 Somalia alleine, ohne den Vater des stammberechtigten Kindes, vom welchem sie Familienflüchtlingsschutz ableiten möchte, verlassen hat. Es fehlt in dieser Konstellation aber bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift an der Voraussetzung, dass die Familie bereits in dem Herkunftsland bestand. […] Lediglich in dem Fall – der hier nicht besteht – dass Vater und Mutter als Familienangehörige gemeinsam das Herkunftsland verlassen und das stammberechtige Kind "nachgeboren" wird, lässt sich anhand des Wortlauts der Norm nicht belegen, dass eine Familie im Herkunftsland nicht bereits bestanden habe.

Dass Eltern von nachgeborenen stammberechtigten Kindern generell keinen Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 3 und Abs. 5 AsylG haben, folgt indes aus der Gesetzesauslegung im Übrigen. Dafür spricht allen voran die Gesetzessystematik im Hinblick auf § 26 Abs. 2 AsylG und der Wille des historischen Gesetzgebers. § 26 Abs. 2 und 5 AsylG regelt den Fall, dass ein minderjähriges lediges Kind Familienflüchtlingsschutz von einem Elternteil ableitet. In diesen Fällen verzichtet der Gesetzgeber auf die Anforderung, dass die Familie bereits in dem Herkunftsland bestanden haben muss. Damit regelt der Gesetzgeber, dass Kinder von Flüchtlingsschutzberechtigten einen Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz auch dann haben, wenn sie nach der Ausreise aus dem Verfolgungsland geboren sind. Damit trifft der Gesetzgeber in § 26 Abs. 2 AsylG eine Regelung, die in dem hier entscheidenden Punkt von § 26 Abs. 1 sowie Abs. 3 AsylG abweicht. In den Fällen, in denen ein Ehegatte bzw. Lebenspartner von einem anderen (Ehe-)Partner Familienflüchtlingsschutz ableitet (§ 26 Abs. 1 AsylG) bleibt es bei wie in den Fällen des § 26 Abs. 3 AsylG bei der Anforderung, dass die Familie bereits in dem Herkunftsland bestanden haben muss. Damit weicht der Gesetzgeber nur hinsichtlich § 26 Abs. 2 AsylG zu Gunsten der asylsuchenden Kinder von schutzberechtigten Eltern von den europarechtlichen Vorgaben ab. Denn nach Art. 2 Buchstabe j Spiegelstrich 2 RL 2011/95/EU ist das Kind auch in diesen Fällen darauf verwiesen, dass die Familie mit den Eltern bzw. dem Elternteil schon im Herkunftsland bestanden hat. Hätte der deutsche Gesetzgeber nicht den Regelungswillen gehabt, zu Gunsten der Kinder schutzberechtigter Eltern von den europarechtlichen Vorgaben abzuweichen, dann hätte er diese europarechtlichen Vorgaben übernommen, so wie er dies für § 26 Abs. 1 und 3 AsylG getan hat. Im Hinblick auf den vorliegend zu prüfenden § 26 Abs. 3 AsylG bedeutet dies indes: Hätte der Gesetzgeber auch den Eltern oder dem Elternteil Flüchtlingsschutz unabhängig von der familiären Situation im Herkunftsland – das heißt unabhängig von der bereits bestehenden Anwesenheit des schutzberechtigten Kindes nach seiner Geburt – gewähren wollen, dann hätte er dies erreicht, indem er die Voraussetzung der bereits bestehenden Familie (§ 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AslyG) gestrichen hätte , so wie er es in § 26 Abs. 2 AsylG getan hat. Dies ist letztlich aber nicht der Fall.

Würde zudem der in § 26 Abs. 3 AsylG zu Grunde gelegte Familienbegriff auf die bereits vor Geburt des stammberechtigten Kindes bestehende Familie ausgedehnt, wäre eine sinnwidrige Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 26 Abs. 3 AsylG die Folge. Denn dann könnten die Eltern eines stammberechtigten Kindes, wenn sie gemeinsam das Herkunftsland verlassen, von dem Kind Familienflüchtlingsschutz erhalten, weil es sich vermeintlich um eine "Restfamilie" und damit Familie im Sinne des Gesetzes handele (vgl. VG Freiburg, Urteil vom 09.10.2018 – A 1 K 3294/17, juris Rn. 18; VG Sigmaringen, Urteil vom 19.05.2017 – A 3 K 3301/16, juris Rn. 25). In den Konstellationen wie bei der hiesigen Klägerin zu 1, in denen ein Elternteil das Herkunftsland alleine verlässt, würde indes, mangels vorheriger Familie, Familienflüchtlingsschutz für das Elternteil ausscheiden. Diese Differenzierung leuchtet vor dem Hintergrund des Schutzzweckes der Norm nicht ein. Der Schutzzweck des Familienflüchtlingsschutzes ist dahingehend, dass zu vermuten ist, dass Familienangehörigen des von Verfolgung bedrohten Flüchtlings (§ 3 AsylG) alleine auf Grund des Verwandtschaftsverhältnisses ebenfalls gefährdet sind, derart verfolgt zu werden (vgl. Erwägungsgrund Nr. 36 RL 2011/95/EU). Es kommt daher für die Gewährung des Familienflüchtlingsschutzes auf das Verhältnis zwischen dem schutzberechtigten Kind und dem schutzsuchenden Elternteil an und nicht auf das Verhältnis der für sich genommen womöglich nicht schutzberechtigten Eltern untereinander, weshalb es keinen Unterschied machen darf, ob ein Elternteil alleine oder mit dem anderen Elternteil ausreist.

Soweit zum Teil hinsichtlich des Sinn und Zweckes des Familienflüchtlingsschutzes damit argumentiert wird, dass die Verfolgungsvermutung von Familienangehörigen eines Flüchtlings aus Erwägungsgrund Nr. 36 RL 2011/95/EU nicht danach differenziert, ob die Familienverbindung von Eltern und Kind bereits im Herkunftsland bestanden hat (vgl. Broscheit, ZAR 2019, 177; VG Wiesbaden, Urteil vom 26.09.2018 – 7 K 3271/17, juris Rn. 29), so erachtet das Gericht dies nicht als zutreffend. Der Begriff der "Familienangehörigen" aus Erwägungsgrund Nr. 36 RL 2011/95/EU wird in Art. 2 Buchstabe j RL 2011/95/EU legal definiert. Diese Legaldefinition stellt aber gerade ausdrücklich darauf ab, dass die Familie bereits in dem Herkunftsland bestanden haben muss. Das dies bedeutet, dass das stammberechtigte Kind schon in dem Herkunftsland Teil dieser Familie sein muss, wurde bereits ausgeführt. Der Schutzbereich des § 26 Abs. 3 AsylG, der eine Verfolgungsvermutung zu Gunsten der Eltern des verfolgten Kindes enthält, ist also auf die Fälle der "Vorverfolgung" im Herkunftsland beschränkt (VG Würzburg, Urteil vom 29.08.2017 – W 4 K 17.31679, juris Rn. 16). Die Differenzierung danach, ob das Familienverhältnis von Kind und Eltern bereits im Herkunftsstaat bestanden hat, wird zum Teil mit nachvollziehbaren Argumenten als unsachgemäß angesehen (vgl. Broscheit, ZAR 2019, 177 f.). Nichtsdestotrotz ist es beispielsweise unzweifelhaft, dass ein alleinerziehendes Elternteil nach derzeitiger Gesetzeslage einen Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz hat, wenn sein Kind im Herkunftsland geboren ist, jedoch mangels Familie im Herkunftsland dann nicht, wenn es erst nach der Ausreise geboren wird (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 25.08.2017 – 11 A 687/17.A). In den Fällen, in denen beide Eltern zusammen das Herkunftsland verlassen, gilt indes nichts Anderes, denn Art. 2 Buchstabe j Spiegelstrich 3 RL 2011/95/EU regelt, dass "der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener […]" Familienangehöriger des stammberechtigten Kindes ist. Eine Privilegierung des Elternpaares ist weder im Gesetz angelegt noch wäre sie – wie bereits ausgeführt – sachgemäß. Vor dem Hintergrund der bestehenden Rechtslage bleibt es vorliegend Sache des Gesetzgebers, nicht des Gerichts, Wertungswidersprüche auszuräumen.

2. Auch die Berücksichtigung von Art. 4 der Charta der Grundreche der Europäischen Union (EU-GRCh) i.V.m. Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) steht der Rechtmäßigkeit der Entscheidung nicht entgegen. [...]

Im Fall einer Anerkennung als international Schutzberechtigte in Malta erhalten die Betroffenen eine dreijährige Aufenthaltsberechtigung, die auf Antrag verlängert wird. In der Praxis kommt es zwar zum Teil zu Verzögerungen bei der Ausstellung der Aufenthaltsberechtigungen, da den Antragstellern Informationen nicht ausreichend zur Verfügung gestellt und die Anträge nur langsam bearbeitet werden (AIDA Country Report: Malta 2020, S. 95). Anhaltspunkte dafür, dass international Schutzberechtigte keine Aufenthaltsberechtigung erhielten, liegen jedoch nicht vor.

Aus den aktuellen Erkenntnismitteln geht hervor, dass das Auffinden einer Unterkunft für international Schutzberechtigte zwar eine Herausforderung darstellt, da in Malta in den letzten Jahren ein starker Anstieg der Mietpreise und in der Folge auch ein Anstieg von Obdachlosigkeit zu verzeichnen ist (AIDA Country Report: Malta 2020, S. 103). In der Praxis droht jedenfalls der Mehrheit der Schutzberechtigten deswegen jedoch nicht die Obdachlosigkeit. International Schutzberechtigte haben ab 12 Monaten Aufenthalt in Malta Anspruch auf Aufnahme in alle staatlichen Programme, die die maltesischen Behörden zur Unterstützung bei der Wohnungssuche anbieten. In der Praxis wird Unterstützung bei der Wohnungssuche durch die zuständige staatliche Stelle geleistet. (AIDA Country Report: Malta 2020, S. 103). Eine Unterkunft in Aufnahmezentren ist Schutzberechtigten derzeit wegen Auslastung der Einrichtungen grundsätzlich nicht möglich. In einigen Fällen ist die Rückkehr in eine Aufnahmeeinrichtung aber trotzdem möglich, wenn Vulnerabilität vorliegt, wie beispielsweise bei Familien mit Kleinkindern (AIDA Country Report: Malta 2020, S. 103). International Schutzberechtigte erhalten zudem bei entsprechendem Bedarf einen Mietzuschuss (AIDA Country Report: Malta 2020, S. 103).

International Schutzberechtigte haben in Malta rechtlich und tatsächlich die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt selbstständig zu bestreiten. Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist für anerkannte Schutzberechtigte in gleicher Form wie für maltesische Staatsangehörige eröffnet. Subsidiär Schutzberechtigte scheinen dabei von einigen Tätigkeiten, die eine besondere Nähe zum Staat erfordern (Polizei, Militär), ausgeschlossen zu sein und keine Rentenleistungen o.ä. erwerben zu können (AIDA Country Report: Malta 2020, S. 104). Zudem wird Unterstützung bei der Suche nach einer Beschäftigung in Form von Trainingsprogrammen ("JobsPlus") angeboten (AIDA Country Report: Malta 2020, S. 104).

International Schutzberechtigte haben zudem Anspruch auf Sozialleistungen. Leistungen für subsidiär Schutzberechtigte sind dabei auf sog. Kernleistungen ("core welfare benefits") beschränkt ist, worunter Sozialhilfe zu verstehen sein dürfte (AIDA Country Report: Malta 2020, S. 106).

Zur Überzeugung des Gerichts besteht für international Schutzberechtigte in Malta auch Zugang zu medizinischer Versorgung. Flüchtlinge werden dabei sogar in gleicher Weise wie maltesische Staatsangehörige behandelt (AIDA Country Report: Malta 2020, S. 106). Leistungen für subsidiär Schutzberechtigte sind dabei auf sog. Kernleistungen beschränkt (AIDA Country Report: Malta 2020, S. 106). [...]