OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 02.02.2022 - 2 LB 184/21 (Asylmagazin 5/2022, S. 173 ff.) - asyl.net: M30428
https://www.asyl.net/rsdb/m30428
Leitsatz:

Rechtswidrige Zwangsmittelandrohung zur Durchsetzung eines aufenthaltsrechtlichen Umverteilungsbescheides:

"1. Bei psychotherapeutischen Behandlungen kann auch eine erst vor kurzem begonnene Beziehung zu der behandelnden Person schützenswert sein.

2. Ausgehend von dem § 15a Abs. 1 AufenthG zugrundeliegenden Beschleunigungsgebot kann nicht angenommen werden, dass eine Umsetzung der Verteilungsentscheidung in angemessener Zeit tatsächlich und rechtlich möglich ist, wenn zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt ein Vollstreckungshindernis absehbar über mehrere Monate besteht."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Umverteilung, Psychotherapie, psychische Erkrankung, Zwangsmittel, Androhung, Vollstreckung, Verteilungsverfahren,
Normen: AufenthG § 15a Abs. 1 S. 6, AufenthG § 15a Abs. 4 S. 1, GG Art. 2 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

2.). Insoweit ist der Verteilungsbescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Entsprechend ist das erstinstanzliche Urteil abzuändern und der Bescheid der Beklagten vom 11.09.2018 teilweise aufzuheben.

1. Die Zuweisung des Klägers in die Aufnahmeeinrichtung des Landes Baden-Württemberg in Karlsruhe begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Die Voraussetzungen zum Erlass der streitgegenständlichen Verteilungsentscheidung liegen vor. [...]

Der unerlaubt eingereiste Kläger hatte bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Veranlassung der Verteilung nicht nachgewiesen, dass seiner Verteilung nach Karlsruhe zwingende Gründe gemäß § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG entgegenstehen. [...]

Ob zwingende Gründe einer Verteilung entgegenstehen, ist nach neuerer Rechtsprechung des Senats von der Behörde, die die Verteilung veranlasst, im Rahmen des Erlasses des Verteilungsbescheides nach § 15a Abs. 4 Satz 1 AufenthG zu prüfen. Ob die Ausländerbehörde zuvor einen Vorsprachebescheid gemäß § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG erlassen hat oder nicht, ist unerheblich (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 23.06.2021 - 2 B 203/21, juris Rn. 11 ff.). Erheblich sind zwingende Gründe im Rahmen der Verteilungsentscheidung nur dann, wenn sie vor deren Veranlassung nachgewiesen worden sind (vgl. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG).

Der Kläger hat bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Veranlassung der Verteilung nicht nachgewiesen, dass seiner Verteilung zwingende Gründe gemäß § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG entgegenstehen. Er hat zwar bereits vor Veranlassung der Verteilung mit an das Migrationsamt gerichtetem Schreiben vom 31.07.2018 ausgeführt, dass es ihm aufgrund der Flucht und der dort erlebten Traumatisierungen psychisch nicht gut gehe und er auf der Suche nach psychologischer Behandlung sei. Dies genügt aber nicht zum "Nachweis" eines zwingenden Grundes im Sinne von § 15a Abs. 1 Satz AufenthG aus gesundheitlichen Gründen. Dahingehende Belege hat der Kläger erst nach Veranlassung der Verteilung vorgelegt. Zwar kann eine rechtsschutzfreundliche Auslegung des § 15a AufenthG auch die Berücksichtigung erst nachträglich beigebrachter Belege oder Nachweise gebieten, wenn der Ausländer vor Veranlassung der Verteilung plausibel und unter Darstellung der erforderlichen Einzelheiten einen Sachverhalt darlegt, aus dem sich ein zwingender Grund ergeben kann (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 13.12.2021 - 2 B 352/21, n.v.). [...]

2. Der Bescheid der Beklagten vom 11.09.2018 ist jedoch rechtswidrig, soweit dem Kläger für den Fall, dass er der Zuweisung nicht nachkommt, unmittelbarer Zwang angedroht wurde.

a. Der derzeitige psychische Gesundheitszustand des Klägers begründet ein Vollstreckungshindernis, das seiner zwangsweisen Verbringung an einen anderen Ort länger als nur kurzzeitig entgegensteht.

Werden der Verteilung entgegenstehende Gründe – wie vorliegend – erst nach Veranlassung der Verteilung nachgewiesen, kann sich aus ihnen – z.B. bei ernsthaften Gesundheitsgefahren – ein Hindernis für die Vollstreckung des Verteilungsbescheides ergeben, das sich auf die Rechtmäßigkeit der Zwangsmittelandrohung auswirkt (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 23.11.2020 - 2 B 250/20, juris Rn. 10 m.w.N.). [...]

Denn der Kläger würde bei einer Vollstreckung der Verteilung zum derzeitigen Zeitpunkt sehenden Auges schwersten psychischen Gesundheitsschäden ausgeliefert. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem psychiatrischen Sachverständigengutachten des Chefarztes der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Klinikums A. vom ... 2021 sowie dessen ergänzenden Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung. [...]

Der Sachverständige hat sein Gutachten in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzend ausgeführt, dass er keinen Zweifel daran habe, dass der Kläger ernsthaft erkrankt sei und eine psychotherapeutische Behandlung bei seinem Krankheitsbild sachgerecht sei. Wenn der Kläger sofort nach Karlsruhe müsse, sehe er, der Sachverständige, ein gesundheitliches Risiko für den Kläger. Es bedürfe einer mehrmonatigen Übergangs- bzw. Vorbereitungszeit. Ohne entsprechende Vorbereitungszeit würde es nach Einschätzung des Sachverständigen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers bzw. zu einer Dekompensation bei diesem kommen. Ein Suizidversuch des Klägers sei dann wahrscheinlich; seine Hospitalisierung zumindest möglich. Bei zusammenfassender Bewertung sehe er angesichts der festgestellten depressiven Symptomatik bei einer sofortigen Verteilung des Klägers die überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass es bei diesem zu einem depressiven Einbruch kommen werde.

Der Kläger kann auch nicht auf die grundsätzlich im gesamten Bundesgebiet bestehende Möglichkeit der Behandlung einer psychischen Erkrankung (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 31.07.2014 - 1 B 177/14, juris Rn. 8 f., juris) verwiesen werden. Es ist gegenwärtig von einer schutzwürdigen Therapeuten-Patienten-Beziehung auszugehen, auf deren Fortbestehen er aufgrund seines psychischen Gesundheitszustandes dringend angewiesen ist. Der Umstand, dass psychische Erkrankungen auch in Baden-Württemberg behandelbar sind, führt daher nicht dazu, dass eine zwangsweise Umsetzung der Verteilungsentscheidung zum gegenwärtigen Zeitpunkt möglich ist. Ein auch nur vorübergehender Abbruch der psychotherapeutischen Behandlung des Klägers hätte derart schwerwiegende Auswirkungen auf seinen Gesundheitszustand, dass ihm gegenwärtig nicht zugemutet werden kann, Bremen zu verlassen. Der Kläger ist nach den Feststellungen des Sachverständigen aus medizinischer Sicht darauf angewiesen, die begonnene Psychotherapie in Bremen fortzusetzen. Der Sachverständige hat unter Bezugnahme auf den Schriftsatz der Beklagten vom 02.02.2022 hervorgehoben, dass selbst dann, wenn in Karlsruhe Therapieangebote für den Kläger bestünden, eine neue Vertrauensbeziehung zu einem anderen Therapeuten nicht schnell genug aufgebaut werden könne. Psychotherapie sei eine Vertrauensbeziehung, die man nicht von heute auf morgen ändern könne. Zwar seien – so der Sachverständige – Therapeutenwechsel nicht gänzlich ausgeschlossen. Ein Therapeutenwechsel bedürfe aber einer entsprechenden zeitlichen Vorbereitung. Im Fall des Klägers erachte er eine Übergangszeit von mehreren Monaten für erforderlich. Der Annahme einer schutzwürdigen Therapeuten-Patienten- Beziehung steht auch nicht entgegen, dass der Kläger angesichts seines aktuellen Gesundheitszustands gegenwärtig nur unregelmäßig Termine bei seiner Psychotherapeutin wahrnimmt. Denn nach seinem unstreitig gebliebenen Vorbringen, für dessen Fehlerhaftigkeit der Senat keine Anhaltspunkte hat, sucht er noch häufig den Kontakt zu seiner Psychotherapeutin. Eine Beendigung der Therapeuten-Patienten-Beziehung stellt dies auch nach Einschätzung des Sachverständigen nicht dar.

Nach alldem bestehen hinreichend gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger bei einer zwangsweisen Verbringung nach Karlsruhe konkrete und schwerwiegende Gesundheitsgefahren drohen, die ihm auch unter Berücksichtigung des gegenläufigen öffentlichen Interesses an einer gleichmäßigen Lastenverteilung nicht zuzumuten sind.

b. Das hiernach bestehende Vollstreckungshindernis aus Art. 2 Abs. 2 GG wirkt sich nicht erst bei der Zwangsmittelanwendung aus, sondern führt bereits zur Rechtswidrigkeit der Androhung unmittelbaren Zwangs [...].