VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 28.01.2022 - 2 K 975/20 - asyl.net: M30442
https://www.asyl.net/rsdb/m30442
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für vorverfolgten, homosexuellen Mann aus Namibia:

1. Einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Männern sind durch das sog. Sodomie-Verbot unter Strafe gestellt und stehen in der Strafprozessordnung Namibias auf derselben Stufe wie Mord, Vergewaltigung und Landesverrat, so dass vorläufige Festnahmen auch ohne Gerichtsbeschluss möglich sind.

2. Es hat seit der Unabhängigkeit 1990 kein Gerichtsverfahren wegen Sodomie zwischen zwei männlichen erwachsenen Personen gegeben. In den letzten Jahren fand eine breite gesellschaftliche Diskussion hinsichtlich der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungen und dem Überwinden kolonialer Gesetze statt.

3. Der namibische Staat verfolgt homosexuelle Männer nicht gezielt, wenn es auch vereinzelt zu Verfolgungshandlungen durch die Polizei kommt. Eine Gruppenverfolgung homosexueller Männer aufgrund polizeilicher Übergriffe ist angesichts der vorliegenden Berichte nicht anzunehmen.

4. Der Kläger ist aufgrund eines polizeilichen Übergriffs jedoch vorverfolgt ausgereist, so dass gemäß Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie (2011/95/EU) ein ernsthafter Hinweis darauf besteht, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist. Stichhaltige Gründe, die gegen diese Annahme sprechen, sind nicht ersichtlich.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Namibia, homosexuell, Gruppenverfolgung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Vorverfolgung,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

a) Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln stellt sich die Situation von Homosexuellen in Namibia wie folgt dar:

Einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Frauen sind straflos, zwischen Männern sind sie in Form des Analverkehrs durch das sog. Sodomie-Verbot unter Strafe gestellt. Gerichtsverfahren wegen Sodomie zwischen zwei männlichen erwachsenen Personen hat es allerdings seit der Unabhängigkeit 1990 nicht gegeben (Auswärtiges Amt, Namibia: Reise- und Sicherheitshinweise, auswaertiges-amt.de). Gleiches gilt für die Anwendung der Vorschriften in der Strafprozessordnung, in der Sodomie auf derselben Stufe wie Mord, Vergewaltigung und Landesverrat geführt wird, was es der Polizei theoretisch erlauben würde, Verdächtige auch ohne Gerichtsbeschluss vorläufig festzunehmen und sogar tödliche Gewalt anzuwenden. Das Bestehen dieser Gesetze kann jedoch zu einer Erpressbarkeit der Betroffenen führen (TAZ, 13.1.2019, taz.de/LGBT-in-Namibia/!5560874/ - abgerufen am 11.11.2021).

Es gibt in Namibia eine aktive LGBTIQ-Bewegung, bspw. vertreten durch Out-Right Namibia, und eine gesellschaftliche Diskussion um die Gleichstellung homosexueller Personen. So hat ein Gericht im Oktober 2021 festgestellt, dass die Verfassung Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung verbiete (vgl. Equaldex, LGBT Richts in Namibia, www.equaldex.com/region/namibia). Nach Presseberichten hat sich im Mai 2021 auch die namibische Justizministerin für eine Abschaffung des Sodomie-Verbots ausgesprochen (https://www.namibian.com.na/211755/archive-read/We-cannot-police-peoples-sex-lives-%E2%80%93-Dausab). Zudem wird über mehrere Gerichtsverfahren aus dem Jahr 2021 berichtet, in denen gleichgeschlechtliche Paare ihr Recht auf Eheschließung und Adoption einklagen (https://africanarguments.org/2021/08/where-we-belong-inside-the-reckoning-for-queer-rights-in-namibia/; vgl. auch Bericht bei Equaldex, a.a.O.). In Berichten wird auf eine bestehende Diskriminierung in der Gesellschaft hingewiesen und auf Übergriffe durch die Polizei. Über Angriffe durch die Bevölkerung berichten auch die vom Kläger im Schriftsatz vom 13.1.2022 in Bezug genommen Berichte von Today One (https://www.youtube.com/watch?v=pcawysfTEwA; www.youtube.com/watch= P8DN_piUu8s). Es wird jedoch auch die Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes gegen solche Übergriffe erwähnt (vgl. africanarguments.org/2021/08/where-we-belong-inside-the-reckoning-for-queerrights-in-namibia/; "I always imagined activists to be angry people with posters"). [...]

Zusammenfassend ist festzustellen, dass Homosexualität unter Männern in Namibia zwar unter Strafe steht, eine strafrechtliche Verfolgung jedoch nicht stattfindet. In den letzten Jahren fand eine breite Diskussion hinsichtlich einer Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen statt, die auch die Gerichte und die höchsten politischen Kreise umfasst. Es gibt Unterstützung durch Menschenrechtsorganisationen und einen positiven Diskurs in den Medien. Berichtet wird jedoch auch über konservative Bestrebungen, gerade auf dem Land, und über Übergriffe sowohl von Dritten als auch durch die Polizei.

b) Homosexuelle Männer bilden in Namibia eine "bestimmte soziale Gruppe" im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Dies folgt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bereits aus der Existenz strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen (vgl. EuGH, Urt. v. 07.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris Rn. 48). Solche Bestimmungen liegen durch das sog. Sodomie-Verbot vor.

Aus dem oben gesagten ergibt sich, dass der namibische Staat homosexuelle Männer nicht gezielt verfolgt. Hierfür reicht das bloße Bestehen einer Rechtsnorm, die homosexuelle Handlungen unter Freiheitsstrafe stellt, nicht aus, es bedarf vielmehr auch einer entsprechenden Verfolgungspraxis. Eine staatliche Verfolgungshandlung kann daher erst angenommen werden, wenn die angedrohte Strafe in der Praxis auch tatsächlich verhängt wird (EuGH, a.a.O.). In Namibia wird das Sodomie-Verbot jedoch seit der Unabhängigkeit nicht verfolgt; vielmehr gibt es in den letzten Jahren eine politische Diskussion um die Abschaffung der entsprechenden Paragraphen. [...]

Berichtet wird in den vorliegenden Erkenntnismitteln jedoch über Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch einzelne Polizeibeamte. Bei solchen Übergriffen handelt es sich nicht um Exzesstaten von Amtswaltern, die dem namibischen Staat nicht zugerechnet werden können (vgl. dazu BVerfG, B. v. 14.5.2003 - 2 BvR 134/01 -, juris). Denn zumindest bei der Verfolgung männlicher Homosexueller können sich die Polizisten auf die (noch) bestehenden Straf- und Strafprozessvorschriften berufen und handeln damit formal legal, wenn auch möglicherweise politisch und gesellschaftlich nicht (mehr) akzeptiert. [...]

Zwar erscheinen die vorliegenden Berichte nicht ausreichend, um grundsätzlich die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung homosexueller Männer durch polizeiliche Übergriffe in Namibia zu belegen, im Fall des Klägers tritt jedoch der Umstand hinzu, dass dieser bereits einmal von solchen Übergriffen betroffen war und damit vorverfolgt ausgereist ist.

Der Kläger berichtete übereinstimmend bei der Anhörung beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung über einen Vorfall mit der Polizei, als er sich mit einem anderen Mann im Auto aufhielt. In der mündlichen Verhandlung schilderte der Kläger, sie hätten auf einen Parkplatz gestanden, der etwas außerhalb lag und daher von Liebespaaren aufgesucht wurde. Dort seien sie von Polizisten kontrolliert worden. Er vermochte die Situation und die örtlichen Gegebenheiten detailreich und überzeugend zu beschreiben. Bei der Schilderung der Übergriffe durch die Polizeibeamten (Schläge und Beleidigungen) war der Kläger deutlich emotional berührt. [...] Da bereits diese Übergriffe eine Vorverfolgung beinhalteten, lässt es die Einzelrichterin dahingestellt, inwieweit die sich in der mündlichen Verhandlung anschließende Schilderung einer Mitnahme zum Polizeirevier einen gesteigerten, nicht mehr glaubwürdigen Vortrag beinhaltet.

Dem somit vorverfolgten Kläger ist eine Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht zuzumuten; es liegen keine stichhaltigen Gründe vor, die gegen eine erneute derartige Bedrohung sprechen. [...] Die Situation des Klägers in seinem Herkunftsstaat wäre erst dann anders zu bewerten, wenn die ausgrenzenden Straf- und Strafprozessvorschriften tatsächlich aufgehoben würden und für ihn damit eine ausreichende Rechtsschutzmöglichkeit bestünde. [...]