EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 22.02.2022 - C-483/20 - XXXX gg. Belgien - asyl.net: M30445
https://www.asyl.net/rsdb/m30445
Leitsatz:

Die Behörden eines Mitgliedstaates können den Asylantrag einer Person auch dann wegen Anerkennung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig ablehnen, wenn einem minderjährigen Kind dieser Person subsidiärer Schutz gewährt wurde. Sie müssen dann jedoch zur Wahrung der Familieneinheit gemäß Art. 23 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie den Aufenthalt des Elternteils ermöglichen, u.A. indem ein Aufenthaltsrecht erteilt wird.

(Leitsätze der Redaktion; siehe zur deutschen Rechtslage: BVerwG, Urteil vom 17.11.2020 - 1 C 8.19 - asyl.net: M29341 und: Kerstin Müller, Flucht ohne Ende?, Asylmagazin 10-11/2021, S. 358)

Schlagwörter: Internationaler Schutz in EU-Staat, nachgeborenes Kind, Familienschutz, Kindeswohl,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Bst. a, GR-Charta Art. 7, GR-Charta Art. 24 Abs. 2
Auszüge:

[...]

12   Nachdem der Kläger des Ausgangsverfahrens am 1. Dezember 2015 in Österreich als Flüchtling anerkannt worden war, reiste er Anfang des Jahres 2016 nach Belgien, um zu seinen beiden Töchtern zu ziehen, von denen eine minderjährig ist. Am 14. Dezember 2016 wurde den beiden Töchtern in Belgien subsidiärer Schutz zuerkannt. Der belgische Staat erkannte dem Kläger des Ausgangsverfahrens das elterliche Sorgerecht für das minderjährige Kind zu, er hat aber kein Aufenthaltsrecht in Belgien. [...]

22   Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat daran hindert, von der mit dieser Vorschrift verliehenen Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller von einem anderen Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn der Antragsteller der Vater eines minderjährigen, unbegleiteten Kindes ist, dem in dem erstgenannten Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt worden ist, der Antragsteller der einzige Elternteil der Kernfamilie an seiner Seite ist, dieses Kind bei ihm lebt und ihm von diesem Mitgliedstaat das Sorgerecht für dieses Kind zuerkannt wurde. [...]

31   Aus den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass die Behörden eines Mitgliedstaats von der ihnen durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 eingeräumten Befugnis keinen Gebrauch machen dürfen, wenn sie auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu dem Schluss kommen, dass in dem Mitgliedstaat, in dem der Drittstaatsangehörige bereits internationalen Schutz genießt, entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen und dass es im Hinblick auf diese Schwachstellen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass dieser Drittstaatsangehörige tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. März 2019, Jawo, C-163/17, EU:C:2019:218, Rn. 85 bis 90, sowie vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, EU:C:2019:219, Rn. 92).

32   Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 verbietet es einem Mitgliedstaat hingegen nicht, die durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis auszuüben, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationaler Schutz gewährt worden ist, wenn der Antragsteller keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als international Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren. [...]

33   Im vorliegenden Fall und vorbehaltlich einer Prüfung durch das vorlegende Gericht, das allein für die Entscheidung über den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zuständig ist, geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht hervor, dass dies hinsichtlich der Lebensbedingungen des Klägers des Ausgangsverfahrens in Österreich der Fall sein könnte. Unbeschadet einer solchen Prüfung ergibt sich vielmehr aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass der vom Kläger des Ausgangsverfahrens in Belgien gestellte Antrag auf internationalen Schutz nicht mit dem Bedürfnis nach internationalem Schutz als solchem begründet wird, dem bereits in Österreich hinreichend nachgekommen wird, sondern mit dem Bestreben des genannten Klägers nach Sicherstellung des Familienverbands in Belgien. [...]

36   Ein nicht zu einer Verletzung von Art. 4 der Charta führender Verstoß gegen eine Vorschrift des Unionsrechts, die Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, ein materielles Recht verleiht, hindert die Mitgliedstaaten, selbst wenn dieser Verstoß erwiesen wäre, nicht daran, ihre durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 eingeräumte Befugnis auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u.a., C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17, EU:C:2019:219, Rn. 92). Insoweit haben die durch die Art. 7 und 24 der Charta garantierten Rechte im Gegensatz zu dem in Art. 4 der Charta verankerten Schutz vor jeder unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung keinen absoluten Charakter und können daher unter den in Art. 52 Abs. 1 der Charta genannten Voraussetzungen eingeschränkt werden. [...]

39   Zwar sieht diese Bestimmung eine Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf die Familienangehörigen einer Person, der diese Eigenschaft oder dieser Status zuerkannt worden ist, kraft Ableitung nicht vor, so dass im vorliegenden Fall der Umstand, dass die beiden Töchter des Klägers des Ausgangsverfahrens subsidiären Schutz genießen, nicht bedeutet, dass der Kläger allein deshalb im selben Mitgliedstaat auf der genannten Grundlage internationalen Schutz genießen müsste; indessen schreibt diese Bestimmung den Mitgliedstaaten ausdrücklich vor, für die Aufrechterhaltung des Familienverbands Sorge zu tragen, indem sie für die Familienmitglieder der Person, die internationalen Schutz genießt, eine Reihe von Leistungen einführt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2021, Bundesrepublik Deutschland [Wahrung des Familienverbands], C-91/20, EU:C:2021:898, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Gewährung dieser in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen, darunter u. a. die Gewährung eines Aufenthaltsrechts, ist an drei Voraussetzungen gebunden, die sich erstens auf die Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie, zweitens den Umstand, dass für diesen Angehörigen selbst die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes nicht erfüllt sind, und drittens auf die Vereinbarkeit mit der persönlichen Rechtsstellung des betreffenden Familienangehörigen beziehen.

40   Erstens schließt jedoch der Umstand, dass ein Elternteil und sein minderjähriges Kind getrennte Migrationswege zurückgelegt hatten, bevor sie in dem Mitgliedstaat, in dem das Kind internationalen Schutz genießt, wieder zueinander fanden, nicht aus, dass dieses Elternteil als Familienangehöriger des Schutzberechtigten im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 angesehen wird, sofern es sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufgehalten hat, bevor über den Antrag seines Kindes auf internationalen Schutz entschieden wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C-768/19, EU:C:2021:709, Rn. 15, 16, 51 und 54).

41   Zweitens ist im Hinblick auf das Ziel von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, die Aufrecht erhaltung des Familienverbands der Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, sicherzustellen und ferner angesichts des Umstands, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta auszulegen sind (Urteil vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C-768/19, EU:C:2021:709, Rn. 38), davon auszugehen, dass ein Drittstaatsangehöriger, dessen Antrag auf internationalen Schutz unzulässig ist und daher in Anbetracht der Flüchtlingseigenschaft, die er in einem anderen Mitgliedstaat besitzt, in demjenigen Mitgliedstaat abgelehnt worden ist, in dem sein minderjähriges Kind internationalen Schutz genießt, selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes im zweitgenannten Mitgliedstaat erfüllt; dies eröffnet für den genannten Drittstaatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat das Recht auf Gewährung der in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen. [...]

44   Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, von der mit dieser Vorschrift verliehenen Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller von einem anderen Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn der Antragsteller der Vater eines minderjährigen, unbegleiteten Kindes ist, dem in dem erstgenannten Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wobei jedoch die Anwendung von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 unberührt bleibt. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, von der mit dieser Vorschrift verliehenen Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller von einem anderen Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn der Antragsteller der Vater eines minderjährigen, unbegleiteten Kindes ist, dem in dem erstgenannten Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wobei jedoch die Anwendung von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes unberührt bleibt.