OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.02.2022 - 11 A 1625/21.A - asyl.net: M30446
https://www.asyl.net/rsdb/m30446
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für in Bulgarien als schutzberechtigt anerkannte syrische Frau:

Anerkannt Schutzberechtigten droht in Bulgarien grundsätzlich keine Obdachlosigkeit oder andere unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Insbesondere haben sich die Verhältnisse auch durch die Corona-Pandemie nicht derart verschlechtert, dass arbeitsfähigen und gesunden Personen unabhängig von ihrem Willen eine Verelendung droht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bulgarien, familiäre Lebensgemeinschaft, internationaler Schutz in EU-Staat, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Danach kommt § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, der die Regelung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2013/32 umsetzt, nicht zur Anwendung, wenn die oben genannte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh besteht. Eine solche Gefahr besteht jedoch zur Überzeugung des Senats (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) für die Klägerin nicht, so dass ihr Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden konnte. [...]

(2) Nach diesen Maßstäben droht der Klägerin bei einer Rückkehr nach Bulgarien keine gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung. Ein vom Willen eines arbeitsfähigen und gesunden Schutzberechtigten unabhängiger "Automatismus der Verelendung" bei einer Rückkehr nach Bulgarien ist nicht festzustellen.

Dabei ist nicht entscheidungserheblich, welche Behandlung die Klägerin bei ihrem vorangegangenen bereits mehrere Jahre zurückliegenden Aufenthalt in Bulgarien erfahren hat, da - wie ausgeführt - auf den Zeitpunkt der Entscheidung durch den Senat abzustellen ist (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) (vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 88).

Vor Beginn der Corona-Pandemie hat der Senat mit Beschluss vom 16. Dezember 2019 aufgrund der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse ausgeführt, dass anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit drohe und sie - nach Ablauf eines Übergangszeitraums von sechs Monaten, für den sie in den nicht ausgelasteten Aufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber unterkommen könnten - in der Lage sein würden, ihren Lebensunterhalt selbstständig auf dem - wenn auch schwierigen - bulgarischen Arbeitsmarkt zu bestreiten (vgl. grundlegend OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris, Rn. 54 bis 77).

An dieser Einschätzung hält der Senat unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnislage und in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht fest. Die Verhältnisse in Bulgarien haben sich seit Dezember 2019 auch durch die Corona-Pandemie nicht derart verschlechtert, dass der Klägerin als arbeitsfähiger gesunder Frau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von ihrem Willen eine Verelendung drohte. Für die Gefahrenprognose ist dabei davon auszugehen, dass die volljährige Klägerin allein, insbesondere nicht gemeinsam mit ihrer Mutter und/oder ihren jüngeren Geschwistern, nach Bulgarien zurückkehren wird. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass zwischen der Klägerin und ihrer Mutter oder ihren Geschwistern eine von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Beistandsgemeinschaft besteht, die zur Gewährleistung des Schutzes der Familie bereits im Rahmen der Gefahrenprognose zu berücksichtigen wäre.

Der alleinstehenden Klägerin droht bei einer Rückkehr nach Bulgarien auch für eine Übergangszeit bis zur Erlangung eines Arbeitsplatzes nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Obdachlosigkeit. Eine Gleichgültigkeit der bulgarischen Behörden, die zur Folge hätte, das eine von staatlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geriete, in der sie ihre elementarsten Bedürfnisse nicht mehr befriedigen könnte, lässt sich nicht feststellen (vgl. auch OVG Sachsen, Urteil vom 15. Juni 2020 - 5 A 382/18 -, juris, Rn. 43).

(a) Anerkannt Schutzberechtigte müssen sich in Bulgarien grundsätzlich selbst um eine Unterkunft bemühen. Sie haben weiterhin keinen Rechtsanspruch auf Aufnahme in einer Flüchtlingsunterkunft. Auch Anspruch auf eine Sozialwohnung haben anerkannt Schutzberechtigte ebenso wenig wie bulgarische Staatsangehörige (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen in Asyl- und Rückführungsangelegenheiten vom 11. März 2021, S. 1).

Gleichwohl bestehen weiterhin keine konkreten Hinweise darauf, dass anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien im Allgemeinen obdachlos oder von Obdachlosigkeit in besonderem Maße bedroht wären (vgl. Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen in Asyl- und Rückführungsangelegenheiten vom 7. April 2021, S. 3; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17. März 2020 - 7 A 10903/18.OVG -, juris, S. 21 des Urteilsabdrucks (pdf-Dokument); OVG Sachsen, Urteil vom 15. Juni 2020 - 5 A 382/18 - juris, Rn. 44).

Die geringe Auslastung der Aufnahmezentren für Asylsuchende besteht fort. Von den in den Aufnahmezentren in Sofia (im Ganzen vier), Banya, Pastrogor und Harmanli zur Verfügung stehenden 5.160 Plätzen waren Ende des Jahres 2020 nur 1.032 belegt (vgl. aida Country Report Bulgaria, Stand 1. Februar 2021, S. 57).

International Schutzberechtigte können dort auch weiterhin Unterkunft erhalten. Ende 2020 haben insgesamt 170 anerkannt Schutzberechtigte in diesen Aufnahmezentren gewohnt (vgl. aida Country Report Bulgaria, Stand 1. Februar 2021, S. 57). Die Situation unterscheidet sich damit wesentlich von der in Italien, wo zurückkehrende Schutzberechtigte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zu einer staatlichen Unterkunft haben (vgl. OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris).

Die EU-Kommission berichtet, dass die staatliche Agentur für Flüchtlinge (SAR) in ihren Aufnahmezentren Unterkünfte auch für international Schutzberechtigte zur Verfügung gestellt hat, die zwar nicht mehr berechtigt waren, dort zu leben, denen aber aufgrund der Covid-19-Krise eine Obdachlosigkeit drohte. Auch Verpflegung werde in den Unterkünften durch die SAR zur Verfügung gestellt (vgl. European Commission, European Website on Integration, Impact of government measures related to Covid-19 on third country nationals in Bulgaria, 11. Mai 2020, ec.europa.eu/migrant-integration/news/impact-of-government-measures-related-to-covid-19-on-third-country-nationals-in-bulgaria, Abschnitt "Social Support", Absatz 1).

Neben der staatlichen Unterstützung bieten nach der Erkenntnis der EU-Kommission auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) - namentlich das Bulgarische Rote Kreuz, die Caritas Sofia, IOM und das Council of Refugee Women - weiterhin Unterstützung an. Diese NGOs hätten berichtet, dass etwa 200 Familien von Drittstaatenangehörigen wegen pandemiebedingter wirtschaftlicher Schwierigkeiten bei ihnen Unterstützung gesucht und erhalten hätten. So habe etwa das Bulgarische Rote Kreuz angeboten, die Miete für einen Monat zu übernehmen und Lebensmittel zu kaufen. Das Council of Refugee Women habe wöchentliche Unterstützung bei der Beschaffung von Lebensmitteln geleistet (vgl. European Commission, European Website on Integration, Impact of government measures related to Covid-19 on third country nationals in Bulgaria, 11. Mai 2020,https://ec.europa.eu/migrant-integration/news/impact-of-government-measures-related-to-covid-19-on-third-country-nationals-in-bulgaria, Abschnitt "Social Support", Absatz 3).

Angesichts dieser Erkenntnislage kann auch die Klägerin in Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Unterkunft in einer der nicht ausgelasteten Aufnahmezentren finden und wird dort auch eine Verpflegung erhalten, die jedenfalls die elementaren Bedürfnisse befriedigt. Eine solche Unterkunft in Anspruch zu nehmen, ist der Klägerin auch als junger, alleinstehender Frau zumutbar. Eine Vulnerabilität hat sie nicht geltend gemacht.

(b) Der bulgarische Arbeitsmarkt hat sich in Folge der Corona-Pandemie nicht derart verschlechtert, dass es international Schutzberechtigten nun mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht mehr möglich wäre, in zumutbarer Zeit Arbeit zu erhalten und damit ihren Lebensunterhalt im Sinne des nach Art. 4 GRCh gebotenen Existenzminiums selbstständig zu bestreiten (vgl. so bereits OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 17. März 2020 - 7 A 10903/18.OVG -, juris, S. 17 f. des Urteilsabdruck (pdf-Dokument); OVG Sachsen, Urteil vom 15. Juni 2020 - 5 A 382/18 -, juris, Rn. 45). [...]