VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 11.01.2022 - 14 K 5261/17.A - asyl.net: M30472
https://www.asyl.net/rsdb/m30472
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Misshandlungen durch die Taliban:

1. Die von den Taliban angekündigte Amnestie vermag die Vermutung drohender Verfolgung gemäß Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie nicht zu widerlegen.

2. Verfolgungshandlungen gegen Personen, die sich der Zusammenarbeit mit den Taliban verweigert haben, erfolgen wegen einer unterstellten politischen Überzeugung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Amnestie, Vorverfolgung, Taliban,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, RL 2011/95/EU, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Gemessen daran ist das Gericht davon überzeugt, dass sich der Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner (ihm jedenfalls von den Taliban unterstellten) politischen Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes Afghanistan befindet.

a) Der Kläger wäre im Fall der Rückkehr nach Afghanistan zu Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit dem Tode, also von einer Verfolgungshandlung i.S. des § 3a AsylG bedroht. Er ist vorverfolgt ausgereist, sodass ihm die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 QRL zu Gute kommt. Die Vermutung kann nicht widerlegt werden.

aa) Der Kläger ist zur Überzeugung des Gerichts vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist. Er hat glaubhaft geschildert, wie er von den Taliban auf dem Schulweg angesprochen und mitgenommen worden sei und für diese habe spionieren sollen. Außerdem hat er überzeugend geschildert, dass diese ihn, nachdem er ihrer Forderung nicht nachgekommen war, erneut entführt und anschließend gefoltert hätten. [...]

bb) Eine Widerlegung der Vermutung des Art. 4 Abs. 4 QRL ist im Hinblick auf die von den Taliban angekündigte Amnestie nicht möglich. Zwar äußerte die "Führung" der Taliban direkt nach der Machtübernahme vor der Weltpresse, ihre früheren Gegner bzw. Personen, die für die frühere Regierung oder internationalen Truppen gearbeitet hätten, hätten keine Racheakte zu befürchten (vgl. Afghan Analysts Network, The Taleban leadership converges on Kabul as remnants of the republic reposition themselves, 19.8.2021; vor der Machtübernahme zudem schon: Deutsche Welle, Taliban says Afghans who show "remorse" will be safe, 7.6.2021).

Diese Aussagen werden jedoch konterkariert durch eine Vielzahl von Berichten, nach denen es trotz der von den Taliban verkündeten Amnestie in verschiedenen Landesteilen zu Massenhinrichtungen von früheren afghanischen Regierungsmitarbeitern und ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte gekommen sei. Zudem wurden Demonstrationen der Bevölkerung gegen die Taliban unterdrückt. Es existieren Berichte, dass die Taliban anhand von Namenslisten gezielt Personen suchen, denen unterstellt wird, mit der früheren Regierung oder den US-Streitkräften zusammengearbeitet zu haben und dass sie hinsichtlich dieser Personen auch über Detailwissen über zum Teil Jahre zurückliegende Ereignisse verfügen (vgl. BAMF Briefing Notes, 30.8.2021, S. 1; Ruttig, Hybris des Westens in Afghanistan, TAZ, 30.8.2021; Martina van Bijlert, Afghan Analyst Network (AAN), The Moment in Between, After the Americans, before the new regime, abrufbar unter www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/the-moment-in-between-after-the-americans-before-the-new-regime/; EASO, Afghanistan, Security situation update, September 2021, S. 14 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update, 31.10.2021, S. 7f.; Danish Immigration Service, Afghanistan, Recent Developments, Dezember 2021, S. 22 ff.; Human Rights Watch, "No Forgiveness for People Like You". Executions and Enforced Disappearances in Afghanistan under the Taliban, 30 November 2021; zur "rigorosen Anwendung der Scharia" vgl. BAMF Briefing Notes, 27.9.2021, s. 1).

Belastbare Fakten, dass die Taliban vorverfolgt ausgereiste Personen nicht erneut verfolgen würden, existieren demnach nicht. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass derzeit noch unklar ist, wieviel Einfluss die "Führung" der Taliban auf die Verfolgungshandlungen ausführenden Personen hat.

Auch der Zeitablauf seit der Ausreise des Klägers ist im konkreten Einzelfall im Hinblick auf die vorstehend genannten Berichte, dass Personen auch über lange Zeiträume Verfolgung durch die Taliban befürchten müssen, nicht geeignet, die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 QRL zu widerlegen. Es ist für das Gericht nicht feststellbar, dass die in der Region operierenden Taliban keine Erinnerung mehr an den Kläger im Falle von dessen Rückkehr hätten. [...]

b) Die Verfolgungshandlung knüpft auch an einen Verfolgungsgrund an. Die Taliban schreiben dem Kläger eine entgegenstehende politische Überzeugung zu, § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG.

Nach § 3 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es nach § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er tatsächlich die politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

Das Taliban-Regime ist in einem Freund-Feind-Schema verhaftet, unterscheidet also dem Grunde nach nur, wer für oder gegen die eigene Herrschaft ist. Dementsprechend erfolgen Verfolgungshandlungen gegenüber einer Person, die versucht hat sich der Mitarbeit bei den Taliban zu verweigern wegen einer unterstellten entgegenstehenden politischen Überzeugung, nämlich wegen der (unterstellten) Ablehnung der Herrschaft durch die Taliban (Vgl. ausführlich VG Köln, Urteil vom 28.9.2021 - 14 K 5414/17.A -, zur Veröffentlichung in juris und NRWE vorgesehen9. [...]