VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 16.02.2022 - 8 K 1369/20.A - asyl.net: M30480
https://www.asyl.net/rsdb/m30480
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus Myanmar:

1. Sexualisierte Gewalt wird durch das Militär in Myanmar gezielt an Frauen und LGBTI*-Personen ausgeübt, die zu ethnischen Minderheiten gehören.

2. Einem homosexuellen Mann, der Opfer sexualisierter Gewalt durch Militärangehörige geworden ist, steht weder staatlicher Schutz noch eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Myanmar, homosexuell, Vorverfolgung, Ethnie, Shan, Flüchtlingsanerkennung, Militär, sexuelle Gewalt,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Person des Klägers vor. Der Kläger hat einen in sich stimmigen Sachverhalt geschildert, aus dem sich ergibt, dass er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in Folge seiner Homosexualität und einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung außerhalb Myanmars befindet, ihm im Fall einer Rückkehr nach Myanmar mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht und interner Schutz nicht zur Verfügung steht. [...]

Bei dieser Vergewaltigung handelt es sich nicht allein um kriminelles Unrecht. Sie knüpft zielgerichtet an die Geschlechtszugehörigkeit und sexuelle Orientierung des Klägers an. Der Kläger gab glaubhaft an, dass die Soldaten ihn vergewaltigten, nachdem sie ihn als homosexuell identifizierten. Sexuelle Gewalt gegen Frauen wird vom Militär darüber hinaus als "Waffe" im Kampf gegen ethnische Minderheiten eingesetzt, selbes gilt auch für Homosexuelle. Die politischen Reformen im Land führten zwar zu einer sichtbareren Unterstützung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle (LGBTI), einschließlich der Bildung von LGBTI-Menschenrechtsorganisationen und erleichtern es der LGBTI-Gemeinschaft, öffentliche Veranstaltungen abzuhalten und offen an der Gesellschaft teilzuhaben. Trotz dieser Fortschritte bleiben gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen von Männern und Frauen gem. § 377 des Strafgesetzbuches aber verboten und können mit bis zu lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden. Die Gesetze werden jedoch selten angewandt, aber LGBTI-Personen zufolge nutzte die Polizei die Angst vor Strafverfolgung, um Bestechungsgelder zu erpressen. Ferner wird von Belästigungen durch die Polizei einschließlich willkürlicher Festnahmen und Inhaftierung sowie von breiter gesellschaftlicher und familiärer Diskriminierung sowie Diskriminierung am Arbeitsplatz berichtet (BFA S. 46 f.).

Bei dem Kläger hat sich diese allgemeine Situation, die mangels Verfolgungsdichte und -intensität nicht pauschal für eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung ausreichen durfte, jedoch konkret realisiert. Die Vorverfolgung des Klägers begründet die Vermutung dafür, dass sich die Verfolgung bei einer Rückkehr nach Myanmar wiederholen wird (vgl. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU). Es ist insbesondere plausibel, dass die Anzeige bei der Polizei die beschriebene Reaktion, nämlich den Vorwurf der Unterstützung einer regimefeindlichen Rebellengruppe, zur Folge hatte. Auf diese Weise wird nicht nur die Anzeige, sondern auch die Homosexualität indirekt sanktioniert.

(2) Schutz durch den Staat ist nicht zu erwarten. Angehörige der Sicherheitskräfte gehen in der Regel im Falle von Vergewaltigungen straflos aus (BFA, S. 44). Dies entspricht auch der konkreten Erfahrung des Klägers. Die Anzeige zog vielmehr als Konsequenz nach sich, dass dem Kläger von der myanmarischen Regierung eine andersartige politische Einstellung durch Unterstützung einer Rebellengruppe unterstellt wird.

(3) Gegen eine Vorverfolgung des Klägers spricht auch nicht, dass er mit Pass und Visum ausgereist ist. Der Kläger legte bei der Anhörung durch den Einzelrichter nachvollziehbar dar, dass und wie er die Ausreise mithilfe eines Schleppers bewerkstelligte und dass eine eigentliche Sicherheitskontrolle am Flughafen aufgrund der Intervention des Schleppers gar nicht stattfand. Gefälschte Dokumente oder echte Dokumente unwahren Inhalts in Myanmar relativ leicht verfügbar; Dokumentenbetrug ist weit verbreitet (BFA S. 54).

(4) Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht dem Kläger nicht zur Verfügung. [...]

Vor dem Hintergrund, dass der Kläger seine Homosexualität offen lebt und auf einen Verzicht nicht verwiesen werden kann, und dass das Militär ihn nach seiner Anzeige bei der Polizei suchte, ist für das Gericht auch nicht ersichtlich, dass dem Kläger interner Schutz zur Verfügung steht. [...]