VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 20.01.2022 - 29 K 107.17 A (Asylmagazin 7-8/2022, S. 251 f.) - asyl.net: M30481
https://www.asyl.net/rsdb/m30481
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für "westlich geprägte" Frau aus dem Irak:

1. Alleinstehenden Frauen ohne Schutz männlicher Familienangehöriger, die in ihrer Weltanschauung weltlich und in ihrer Identität stark westlich geprägt sind, droht Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG. 

2. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen ihnen Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure in Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierung, die zumindest kumulativ einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte gleichkommen.

3. Alleinstehende Frauen werden im Irak in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt und in ihrer allgemeinen Handlungsfähigkeit beschnitten. Es wird ihnen erheblich erschwert, allein zu überleben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und am Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und zu arbeiten. Frauen, die sich nicht an religiöse Kleidungsvorschriften halten, sind zusätzlichen Bedrohungen ausgesetzt.

4. Geschlechtsspezifisch i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG sind Verfolgungshandlungen nicht nur, wenn Frauen allein wegen ihres Geschlechts verfolgt werden, sondern auch dann, wenn sich solche Maßnahmen nur gegen Frauen richten. Die Verfolgung ist auch frauenspezifisch, wenn sie an ein von herrschenden Vorstellungen abweichendes Verhalten anknüpft.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Stuttgart, Urteil vom 27.07.2021 - A 5 K 2093/19 - asyl.net: M29987, VG Münster, Urteil vom 06.02.2019 - 6a K 3033/18.A - asyl.net: M27118)

Schlagwörter: Irak, Frauen, westlicher Lebensstil, alleinstehende Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Diskriminierung, nichtstaatliche Verfolgung, Gruppenverfolgung, politische Verfolgung, religiöse Verfolgung,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3c Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin ist im Termin zur mündlichen Verhandlung am 20. Januar 2021 persönlich angehört worden. Dabei vertiefte sie ihr Vorbringen zur Bedrohung durch die Familie und gab dazu unter anderem an, von ihrem Vater und Bruder vor ihrer Flucht über zwei Wochen in ihrem Zimmer eingesperrt worden zu sein, weil sie sich nicht an die Regeln des Islams gehalten, sich zu westlich gekleidet und Make-up benutzt habe. [...] Sie habe sich beim Bundesamt nicht getraut, ihre tatsächliche Geschichte zu erzählen, weil auch dort "Araber" gewesen seien und sie Angst gehabt habe, dass irgendjemand ihrer Familie berichten würde, wo sie sich aufhalte. Aus diesem Grund meide sie - genauso wie ihr jetziger syrischer Ehemann, mit dem sie weiterhin zusammenlebe - auch hier in Berlin jeden Kontakt zu arabischen Menschen. Sie beide hätten sich gänzlich vom Islam losgesagt, der ihnen nur Probleme bereitet habe. Sie arbeite in Deutschland als … und könne sich ab Februar dieses Jahres aufgrund ihres dann anerkannten Universitätsabschlusses aus dem Irak für eine Ausbildung als … bewerben. Im Irak könne sie nicht leben, ihr würde dort auch verboten werden, zu arbeiten. Als freiheitsliebende und weltlich geprägte Frau würde sie im Irak von ihrer Familie und auch Anderen unterdrückt oder umgebracht werden. [...]

Nach diesen Maßstäben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Es ist nach Auffassung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass sie bei einer Rückkehr in den Irak einer Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemäß der §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG ausgesetzt ist. Denn das Gericht geht angesichts der derzeitigen Erkenntnismittellage davon aus, dass eine Frau wie die Klägerin, die im Falle einer Rückkehr in den Irak dort alleinstehend und ohne den Schutz eines männlichen Familienangehörigen wäre und überdies in ihrer Weltanschauung weltlich und in ihrer Identität stark westlich geprägt ist, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure gemäß § 3c Nr. 3 AsylG zumindest in der Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG, die in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, drohen.

a. Die Furcht der Klägerin vor den sie bedrohenden Verfolgungshandlungen ist auch nach dem oben beschriebenen Maßstab begründet; [...] Dabei hat die Klägerin in ihrer individuellen Lage im Falle einer Rückkehr in den Irak insbesondere solche Verfolgungen zu fürchten, die an ihre Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen, § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG.

Hinsichtlich der individuellen Lage der Klägerin ist im Vorliegenden zu berücksichtigen, dass sie bei einer Rückkehr in den Irak alleinstehend wäre und als geschiedene Frau gelte, ohne dass ihr ein männlicher Familienangehöriger schützend zur Seite stünde. Ihr syrischer Ehemann würde sie im Falle einer Rückkehr nicht in den Irak begleiten; er verfügt über eine eigene Aufenthaltserlaubnis und kann darüber hinaus nicht in ohne weiteres in den Irak einreisen. Zur Überzeugung des Gerichts ist die Klägerin außerdem eine in ihrer Identität sehr stark weltlich und westlich geprägte Frau.

Glaubhaft hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass ihre Familie ihr bereits in der Vergangenheit jeglichen Schutz versagt hat und dies nach ihrer Flucht und ihrer Heirat auch weiterhin so zu erwarten ist Dabei konnte die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft begründen, dass ihre zunächst beim Bundesamt vorgetragenen Fluchtgründe unvollständig waren und sie ihr tatsächliches Verfolgungsschicksal aus Angst davor, dass ihre Familie ihren Aufenthalt erfahren könnte, verschwiegen hat [...]. Zwar hat sie teilweise z.B. zu ihren Eheschließungen und der Scheidung von ihrem ersten Ehemann nicht chronologisch und teilweise verworren vorgetragen. Dies steht jedoch der Glaubhaftigkeit ihres Vortrags nicht entgegen. Die Klägerin war emotional sichtlich ergriffen, als sie davon berichtete, von ihrem Vater und Bruder eingesperrt worden zu sein, weil sie sich zu westlich gekleidet, geschminkt und ihr Kopftuch nicht "ordentlich" genug gebunden habe. [...] Emotional berührt schilderte sie, dass sie als alleinstehende Frau im Irak in sämtlichen Lebensbereichen unfrei sein würde; bei einer potentiellen Rückkehr würde ihr aufgrund ihres Geschlechts weder erlaubt sein zu arbeiten, noch würde sie als weltlich geprägte Frau dort leben können, ohne Übergriffe durch Männer zu fürchten ("Ich möchte niemanden, der mir vorschreibt, wohin ich gehe (...); (...) dass ich beten müsste oder ein Kopftuch tragen (...); ich dürfte ja nicht einmal mit Männern zusammenarbeiten. Wie soll denn das gehen, es gibt doch keine Arbeit, in der nicht auch Männer arbeiten. Dann habe ich mich verheiratet und mich scheiden lassen. Dann habe ich einen Sunniten geheiratet. Das akzeptieren sie alles nicht."). Der Vortrag der Klägerin zu ihrer westlichen Einstellung ist auch nach dem von ihr in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck überzeugend. Wie schon auf den ersten Fotoaufnahmen in den Verwaltungsvorgängen im Rahmen ihres Asylverfahrens trat die Klägerin vollkommen unverschleiert, mit offenen Haaren und Make-up auf. Sie äußerte sich selbstbewusst zu den von ihr abgelehnten konservativen Wertvorstellungen im Irak sowie dazu, dass ihr als Frau wie allen anderen zivile Rechte und eine selbstbestimmte Lebensführung zustünden, die sie sich nicht nehmen lassen wolle.

b. Die von der Klägerin befürchteten massiven Einschränkungen in ihrer Lebensführung finden Ihre Entsprechung in den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnissen zu den in ihrem Herkunftsland Irak gegebenen Umstände. Die Verfolgungshandlungen gegenüber alleinstehenden, geschiedenen Frauen mit westlicher Lebenseinstellung sind aufgrund ihrer Art und Wiederholung so gravierend, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Alleinstehende Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und ihnen wird es erheblich erschwert, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und zu arbeiten. Für den Eintritt dieser Verletzungen besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit. Die erforderliche "Verfolgungsdichte" ist anzunehmen, da die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen besteht, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt, sondern die Handlungen auf alle sich im Irak aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Die genannten Verfolgungshandlungen drohen nicht nur selten, sondern sie sind üblich und ubiquitär. Da eine alleinstehende Frau ohne männliche schutzbereite Familienangehörige sich notgedrungen alleine in der Öffentlichkeit bewegen muss, um wenigstens zu versuchen, eine Wohnung zu mieten, zu arbeiten und sich zu versorgen, kann sie die bestehenden Gefahren auch nicht umgehen (so auch schon VG München, Urteil vom 17. März 2020 - M 19 K 16.32656 -, juris, Rn. 32, m.w.N.). [...]

Frauen, die sich wie die Klägerin nicht an religiöse Kleidungsvorschriften halten und westlich geprägt sind, sind ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit zusätzlichen Bedrohungen ausgesetzt (vgl. UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, Fn. 476 m.w.N.). [...]

c. Die Verfolgung droht im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG "wegen" eines Verfolgungsgrundes im Sinne von § 3b Abs. 1 AsylG, nämlich der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter HS AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft (vgl. VGH Kassel, Urteil vom 23. März 2005 - 3 UE 3457/04 -, NVwZ-RR 2006, 504, beck-online; ausführlich zur Anknüpfung "allein an das Geschlecht" im Rahmen des § 3b AsylVfg (a.F.), Möller in Hofmann. Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, Rn.13 f.). Das ist hier der Fall. Als Frau ist die Klägerin anknüpfend an das unverfügbare "Merkmal" Geschlecht einer bestimmten Gruppe zuzuordnen, weil ihr Verfolgung in Gestalt von Handlungen droht, die an ihre Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen. Frauenspezifisch sind Verfolgungshandlungen hiernach nicht nur dann, wenn Frauen allein wegen ihres Geschlechts verfolgt werden, sondern auch wenn sich solche Maßnahmen nur gegen Frauen richten. Die Verfolgung ist auch frauenspezifisch, wenn sie - wie hier - an ein von herrschenden sozialen, kulturellen und religiösen Vorstellungen abweichendes Verhalten anknüpft, wobei ihr dann politische und religiöse Verfolgungsgründe zugrunde liegen (so auch VG Berlin, Urteil vom 30. August 2018 - 33 K 428.16 A -, BeckRS 2018, 46553 Rn. 36, beck-online m.w.N.). [...]