OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.11.2021 - 6 S 28/21 - asyl.net: M30506
https://www.asyl.net/rsdb/m30506
Leitsatz:

Keine humanitäre Aufnahme für ehemaligen GIZ-Mitarbeiter aus Afghanistan:

1. Durch die Evakuierung afghanischer Ortskräfte bis zum 26.08.2021 ist keine Verwaltungspraxis etabliert worden, aufgrund derer sich für diese Personengruppe ein Anspruch auf Erteilung eines Visums nach § 22 AufenthG in Verbindung mit der Selbstbindung der Verwaltung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG ergibt. Die Flüge sind wegen der Machtübernahme der Taliban erfolgt, hieraus ergibt sich jedoch keine Änderung der materiellen Kriterien für eine Berechtigung nach dem Ortskräfteverfahren.

2. Nur das BMI oder eine vom ihm bestimmte Stelle hat die Kompetenz, Aufnahmeerklärungen zu § 22 AufenthG abzugeben. Aussagen anderer Stellen können keine Selbstbindung der Verwaltung auslösen.

(Leitsätze der Redaktion; Abänderung von VG Berlin, Beschluss vom 25.8.2021, VG 10 L 285/21; siehe auch VG Berlin, Beschluss vom 26.08.2021 - 6 L 295/21 - asyl.net: M30011)

Siehe auch:

Schlagwörter: Afghanistan, Ortskraft, GIZ, erhebliche individuelle Gefahr, Evakuierung, Visum, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, humanitäre Gründe, Aufnahmezusage,
Normen: AufenthG § 22 S. 2, AufenthG § 22 S. 1, GG Art. 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Ausführungen des Verwaltungsrechts im angefochtenen Beschluss rechtfertigen keine abweichende Einschätzung. Das Verwaltungsgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach § 22 AufenthG bejaht und ausgeführt, den Erfolgsaussichten stehe nicht entgegen, dass es keinen förmlichen Visa-Antrag, sondern nur E-Mail-Verkehr mit der Antragsgegnerin gegeben habe. Es ist dabei allerdings zu Unrecht von einer gesicherten (bevorstehenden) Änderung der OKV-Praxis der Antragsgegnerin ausgegangen.

Soweit es darauf abstellt, der Bundesaußenminister habe in einem Interview vom 13. August 2021 ausdrücklich erklärt, für diejenigen Ortskräfte, die noch kein Visum hätten, die Visa zukünftig erst in Deutschland zu erteilen, hält dem die Antragsgegnerin sachlich richtig entgegen, in dem fraglichen Interview habe er lediglich auf die Möglichkeit der Erteilung von Ausnahme-Visa bei Einreise gemäß § 6 Abs. 4 und § 14 Abs. 2 AufenthG (Erteilung des Visums bei Grenzübertritt nach Deutschland), aber nicht auf eine Modifikation des OKV hingewiesen.

Dem Argument des Verwaltungsgerichts, auf der Internetseite des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - BAMF - werde darauf hingewiesen, dass Ortskräften nach Ankunft eine Aufenthaltserlaubnis nach § 22 AufenthG erteilt werde, entgegnet die Antragsgegnerin sachlich zutreffend, dieser Aussage lasse sich nicht entnehmen, welche Personen für das OKV in Frage kämen. Dem BAMF fehle insoweit auch die Kompetenz. Eine Aufnahmeerklärung könne nach § 22 Satz 2 AufenthG nur das BMIBH oder eine von ihm bestimmte Stelle abgeben.

Soweit das Verwaltungsgericht darauf abstellt, sog. Ortskräfte würden seit Tagen aus Kabul ausgeflogen, wendet die Antragsgegnerin nachvollziehbar ein, der vom Verwaltungsgericht aus diesem Umstand gezogene Schluss, damit sei eine Verwaltungspraxis etabliert worden, aufgrund derer die Antragsgegnerin jede ehemalige Ortskraft und ihre Familienangehörigen ohne Anlegung weiterer, konkreter Kriterien als berechtigt anerkenne, sei nicht gerechtfertigt. Die Durchführung militärisch gesicherter Evakuierungsflüge bis zum 26. August 2021 sei wegen der Machtübernahme durch die Taliban und damit aufgrund äußerer Umstände jenseits der Verfügungsgewalt der Antragstellerin vorgegeben gewesen. Dies habe jedoch keine Änderung der materiellen Kriterien für eine Berechtigung nach dem OKV nach sich gezogen.

Soweit das Verwaltungsgericht auf eine Meldung der Süddeutschen Zeitung vom 27. August 2021 abstellt, wonach man die Kriterien für die Aufnahme von Ortskräften dahingehend geändert habe, dass die Frist für das Ende der Beschäftigung auf das Jahr 2013 erweitert worden sei, kommt es hierauf für einen Anspruch der Antragsteller zu 1., 2. und 5. vorliegend nicht (mehr) an. Dass die Antragsteller zu 3. und 4. hieraus eine Begünstigung für sich herleiten können, lässt sich daraus nicht ableiten.

Soweit das Verwaltungsgericht darauf abhebt, Minister M. des BMZE habe ausweislich der Tagesschau und der Nachrichtenseite t-online.de am 21. August 2021 betont, nach den bisherigen Regelungen hätten afghanische Ortskräfte, deren Ehepartner und minderjährigen Kinder Anspruch auf Ausreise nach Deutschland; volljährige Kinder seien ausgenommen, es sei im Einzelfall aber inhuman Familien zu trennen, daher müssten die Vorschriften geändert werden, er sei froh, dass Innenminister S. signalisiert habe, nicht an der bestehenden Regel festhalten wollen zu wollen, folgt daraus keine abweichende Einschätzung. Den zitierten Angaben lässt sich keine bedingungslose Ausweitung der Anwendung des OKV auf volljährige Kinder (ehemaliger) Ortskräfte entnehmen. Vielmehr wird ausdrücklich darauf abgestellt, dass das OKV insoweit "im Einzelfall" angewandt werden solle. Die Schilderungen der Antragsgegnerin zu den Kriterien, nach denen auch volljährigen Kindern ehemaliger Ortskräfte Visa nach § 22 AufenthG in Verbindung mit dem OKV erteilt werden könnten, wird dadurch nicht in Frage gestellt. [...]