VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.02.2022 - A 11 S 1180/20 - asyl.net: M30518
https://www.asyl.net/rsdb/m30518
Leitsatz:

Heilung eines Zustellungsmangels durch Akteneinsicht:

1. Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Schriftstücks nicht nachweisen oder sind zwingende Zustellungsvorschriften verletzt worden, gilt ein Schriftstück in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es die adressierte oder empfangsberechtigte Person erhalten hat. 

2. Dies ist auch dann der Fall, wenn von den Empfänger*innen bevollmächtigte Rechtsanwält*innen bei der absendenden Behörde Akteneinsicht nehmen und im Rahmen dieser Akteneinsicht vollständig Kenntnis vom Inhalt des Dokuments erlangen können.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: rechtliches Gehör, Verfahrensfehler, Zustellungsmangel, Heilung,
Normen:
Auszüge:

[...]

Insofern weist der beschließende Senat zunächst darauf hin, dass § 8 VwZG bereits nach seinem Wortlaut nicht nur Fälle betrifft, in denen ein zuzustellen-des Dokument dem Empfangsberechtigten zwar zugegangen ist, die Übermittlung des Dokuments aber an formalen Mängeln leidet. Vielmehr erfasst § 8 VwZG sowohl Fälle, in denen ein Zugang des Dokuments zwar erfolgt ist, dies jedoch „unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften“, als auch solche, in denen sich die „formgerechte Zustellung eines Dokuments“ nicht nachweisen lässt. Letzteres umfasst nach dem möglichen Wortsinn der Norm auch Fälle, in denen das zuzustellende Dokument weder dem Adressaten noch einem anderen Empfangsberechtigten zugegangen ist.

Argumente, weshalb eine Heilung nach § 8 VwZG auch in den letztgenannten Fällen nur möglich sein soll, wenn der Nachweis eines tatsächlich zum Abschluss gebrachten Zustellungsvorgangs gelingt, haben die Kläger nur insofern angeführt, als sie auf die Formenstrenge des Zustellungsrechts hinweisen. Insofern wäre es aber erforderlich gewesen, sich auch mit dem Sinn und Zweck der Heilungsvorschrift des § 8 VwZG zu befassen. In diesem Zusammenhang wäre von den Klägern zu berücksichtigen gewesen, dass jedenfalls seit Inkrafttreten des Zustellungsreformgesetzes vom 25. Juni 2001 (BGBl. I S. 1206) den Heilungsvorschriften im Zustellungsrecht des Bundes folgender einheitlicher Gedanke zugrunde liegt (vgl. hierzu BT-Drs. 14/4554, S. 14, und BVerwG, Ur-teil vom 18.04.1997 - 8 C 43.95 - juris Rn. 18 mit weiteren Nachweisen): Unter der Voraussetzung, dass überhaupt eine Zustellungsabsicht vorliegt, bleiben Zustellungsmängel - welcher Art auch immer - unbeachtlich, wenn der Zustellungszweck erreicht ist. Zustellungszweck ist es, dem Adressaten angemessene Gelegenheit zur Kenntnisnahme eines Schriftstücks zu verschaffen und den Zeitpunkt dieser Bekanntgabe zu dokumentieren. Im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren dient die Zustellung neben ihrer Nachweisfunktion im Kern auch dem Zweck, den Anspruch des Adressaten des Dokuments auf rechtliches Gehör zu verwirklichen, ihm den Inhalt des Dokuments zur Kenntnis zu bringen und ihm die Möglichkeit zu verschaffen, seine Rechtsverteidigung oder Rechtsverfolgung darauf einzurichten. Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Schriftstücks nicht nachweisen oder sind zwingende Zustellungsvorschriften verletzt worden, gilt ein Schriftstück in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es der Adressat oder ein Empfangsberechtigter erhalten hat. [...]

Zu § 9 Abs. 1 VwZG a.F. und seiner Nachfolgevorschrift in § 8 VwZG hat sich auf der Basis des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. April 1997 - 8 C 43.95 - (juris Rn. 26) eine gefestigte Rechtsprechung der Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelt, wonach diese Vorschrift nach ihrem Sinn und Zweck auf alle hier in Betracht kommenden Zustellungsfehler Anwendung findet (vgl. etwa OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.12.2021 - 2 B 6/20 - juris Rn. 25 ff.; OVG LSA Beschluss vom 19.06.2018 - 3 M 227/18 - juris Rn. 7; OVG Bremen, Beschluss vom 23.04.2018 - 1 PA 89/17 - juris Rn. 4 f.; VG Hannover, Urteil vom 08.07.2019 - 10 A 672/19 - juris Rn. 27 sowie das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe). Denn unabhängig davon, aus welchen Gründen der Versuch einer ordnungsgemäßen Zustellung fehlging, sind die Zwecke der beabsichtigten und in Gang gesetzten Zustellung erfüllt, sobald das zuzustellende Dokument einer empfangsberechtigten Person tatsächlich zugeht und der Erhalt des Dokuments nachgewiesen werden kann. Dies ist auch dann der Fall, wenn ein vom Adressaten des Dokuments bevollmächtigter Rechtsanwalt beim Absender des Dokuments nachweislich Akteneinsicht nimmt und im Rahmen dieser Akteneinsicht vom Inhalt und der Fassung des Dokuments vollständig Kenntnis erlangen kann. Auf einen ausdrücklich betätigten Willen des Absenders, dem Rechtsanwalt Kenntnis von dem betreffenden Dokument zu verschaffen, kommt es hierbei ebenso wenig an (BVerwG, Urteil vom 18.04.1997 - 8 C 43.95 - juris Rn. 29; OVG LSA, Beschluss vom 19.06.2018 - 3 M 227/18 - juris Rn. 7, VG Hannover, Urteil vom 08.07.2019 - 10 A 672/19 - juris Rn. 27), wie auf die Frage, ob dem Rechtsanwalt das Original des Dokuments oder nur eine Kopie zugänglich gemacht wurde, die das Original nach Inhalt und Fassung vollständig wiedergibt (BVerwG, a.a.O., juris Rn. 29; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.12.2021 - 2 B 6/20 - juris Rn. 26 mit weiteren Nachweisen). Ab dann hat der Adressat des Dokuments alle ihm auch im Falle einer ordnungsgemäßen Zustellung eröffneten Möglichkeiten, den Inhalt des Dokuments zur Kenntnis zu nehmen und die aus seiner Sicht gebotenen Maßnahmen zur Rechtsverteidigung oder Rechtsverfolgung zu ergreifen. [...]