VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 22.03.2022 - 6 A 321/21 - asyl.net: M30525
https://www.asyl.net/rsdb/m30525
Leitsatz:

Keine Dublin-Überstellung nach Rumänien bei dortiger Einstellung des Erstverfahrens:

1. Nach rumänischem Asylverfahrensrecht können Schutzsuchende neun Monate nach Einstellung ihres Asylverfahrens das Erstverfahren nicht mehr fortführen, sondern nur noch einen Asylfolgeantrag stellen. In diesem Fall besteht kein Anspruch auf materielle Versorgung oder Unterbringung durch den rumänischen Staat mehr. Zumindest letzteres stellt einen Verstoß gegen Unionsrecht dar.

2. Unabhängig von der Frage, ob dieser Umstand zur Annahme systemischer Mängel führt, droht einer alleinerziehenden Mutter und ihrem Kind in Rumänien angesichts der Verfahrenspraxis, keine staatlichen Unterstützungsleistungen zu gewähren, eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GR-Charta, Art. 3 EMRK.

(Leitsätze der Redaktion, sich anschließend an: VG Karlsruhe, Beschluss vom 03.08.2021 - A 13 K 2227/21 - asyl.net: M29911)

Schlagwörter: Rumänien, besonders schutzbedürftig, Kind, Dublinverfahren, Einstellung, Existenzgrundlage,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Nach diesem Maßstab ist von einer - jedenfalls mittlerweile gegebenen - Zuständigkeit der Beklagten für die Bearbeitung der Asylverfahren der Klägerinnen auszugehen. Nach der Verfahrenspraxis in Rumänien wird ein Asylerstverfahren, das dort - wie im Fall der Klägerinnen - ohne abschließende Entscheidung beendet wurde, weil der Asylbewerber sich abgesetzt hat, nur dann nach den für ein Asylerstverfahren geltenden Maßstäben fortgesetzt und hierüber entschieden, sofern der Asylbewerber innerhalb von neun Monaten nach der Entscheidung der rumänischen Behörde, das Asylverfahren einzustellen, nach Rumänien zurückkehrt und einen (Asyl-)Antrag stellt (vgl. Aida Country Report Romania 2020, S. 61; S. 83; BFA Staatendokumentation Rumänien 23.8.2021, S. 4; VG Lüneburg, B. v. 13.3.2019 - 8 B 51/19 -, juris Rn. 21). Hinsichtlich der Klägerin zu 1. hatte die zuständige rumänische Behörde IGI hat mit dem Schreiben vom 28. April 2021 mitgeteilt, dass das Asylverfahren in Rumänien im Hinblick darauf, dass sie Rumänien verlassen habe, am 15. April 2021 eingestellt worden sei. Die Frist von neun Monaten, innerhalb derer die Klägerin zu 1. in Rumänien einen Antrag auf Fortführung ihres Asyl-Erstverfahrens hätte stellen können, ist nach Ablauf des 15. Januar 2022 mittlerweile verstrichen.

Das erkennende Gericht muss nicht darüber befinden, ob bereits diese Verfahrenspraxis im rumänischen Asylsystem, Asylerstanträge von Asylbewerbern, die Rumänien nach Asylantragstellung, aber vor abschließender Entscheidung über den Asylantrag verlassen haben, nach Ablauf von neun Monaten seit deren Einstellung, nur als Asylfolgeantrag zu behandeln, und die nicht im Einklang mit den Vorgaben von Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO steht, unionsrechtswidrig oder aufgrund der Regelung gemäß Art. 28 Abs. 2 Unterabsatz 2 der Richtlinie 2013/32/EU als unionsrechtskonform zu bewerten ist (vgl. die Unionsrechtswidrigkeit bejahend bspw. VG Karlsruhe, U. v. 8.7.2021 - A 19 K 6766/18 - , juris Rn. 28; dies ablehnend bspw.: VG Frankfurt (Oder), U. v. 17.6.2021 - 10 K 97/21.A -, juris Rn. 26).

Denn jedenfalls steht die rumänische Verfahrenspraxis, Asylbewerbern, deren Asylantrag auf diese Weise nur noch als Asylfolgeantrag behandelt wird, keinerlei Anspruch auf materielle Versorgung oder Unterbringung durch den rumänischen Staat zu gewähren (vgl. insoweit Aida Country Report Romania 2020, S. 94 mit Verweis auf Art. 88 des rumänischen Asylgesetzes; VG des Saarlandes, B. v. 13.7.2021 - 5 L 628/21 -, juris Rn. 39), im Widerspruch zu Unionsrecht (vgl. VG Karlsruhe, B. v. 3.8.2021 - A 13 K 2227/21 -, juris Rn. 9; VG Frankfurt (Oder), U. v. 17.6.2021 - 10 K 97/21.A -, juris Rn. 30 f.; VG Köln, U. v. 19.4.2021 - 20 K 653/21.A -, juris Rn. 51; VG Sigmaringen, U. v. 19.2.2021 - A 13 K 183/19 -, juris Rn. 42 f.). Gemäß Art. 20 Abs. 1 Buchstabe c der Richtlinie 2013/33/EU können die Mitgliedstaaten die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in begründeten Ausnahmefällen einschränken oder entziehen, wenn ein Antragsteller einen Folgeantrag nach Art. 2 Buchstabe q der Richtlinie 2013/32/EU gestellt hat. Hiervon weicht die rumänische Praxis ab, indem Asylfolgeantragstellern nicht nur in begründeten Ausnahmefällen, sondern vielmehr regelmäßig und automatisch die materielle Versorgung vorenthalten wird.

Diese unionsrechtswidrige Verfahrenspraxis führt - unabhängig von der Frage, ob sie für sich genommen bereits einen systemischen Mangel im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U. v. 21.12.2011 - C-411/10 -, U.v. 14.11.2013 - C-4/11 -) darstellt - im vorliegenden Einzelfall in Bezug auf die Klägerinnen zu einer Verletzung in Art. 4 der EU-Grundrechtecharta - GRCh - für den Fall ihrer Überstellung nach Rumänien. [...]

Im Hinblick darauf, dass die Klägerin zu 1. über keine Berufsausbildung verfügt sowie insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass sie durch die Betreuung und Erziehung der Klägerin zu 2. beansprucht ist, sie [über] keinerlei belastbarer soziale oder familiäre Kontakte in Rumänien haben, und nicht zuletzt des Umstands, dass allein seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine nach Angaben des UNHCR mehr als 535.000 Personen aus der Ukraine nach Rumänien geflüchtet sind (vgl. Operational data portal des UNHCR, Total Refugee influx from Ukraine in neighboring countries, www.data2.unhcr.org/en/situations/ukraine, aufgerufen am 21.3.2022), was die Kapazitäten zur Aufnahme und Integration weiterer Personen wie den Klägerinnen reduziert bzw. erschwert, ist prognostisch nicht mit hinreichender Sicherheit davon auszugehen, dass sie in absehbarer Zeit in der Lage wären, selbstständig ihren Lebensunterhalt und die Kosten einer Unterkunft zu erwirtschaften, sondern ist vielmehr zu prognostizieren, dass sie - im zuvor beschriebenen Sinne - zu verelenden drohen und ihre elementarsten Bedürfnisse nicht würden befriedigen können. [...]