VG Braunschweig

Merkliste
Zitieren als:
VG Braunschweig, Beschluss vom 25.02.2022 - 2 B 27/22 - asyl.net: M30527
https://www.asyl.net/rsdb/m30527
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung wegen gewaltsamer Push-Backs in Kroatien:

"1. Es bestehen erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass kroatische Behörden durch zwangsweise Rück­schiebungen v. a. nach Bosnien-Herzegowina das Recht auf Asylantragstellung gezielt vereiteln und damit gegen das Non-Refoulement-Gebot verstoßen.

2. Kroatische Polizeibeamte üben bei der Durchführung von Push-Backs regelmäßig körperliche und psychische Gewalt gegen Geflüchtete aus.

3. Aufgrund der Beteiligung Kroatiens an Kettenabschiebungen aus anderen EU-Ländern kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch Dublin-Rückkehrer aus Deutschland Opfer von Push-Backs werden."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Kroatien, Pushback, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Refoulement, EMRK, Kettenabschiebung, Polizei, Genfer Flüchtlingskonvention, Dublin III-Verordnung, Zurückschiebung, Zurückweisung, Non-Refoulement, Europäische Menschenrechtskonvention,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2014/EU Art. 3 Abs. 2, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

24 Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ordnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Abschiebung eines Antragstellenden in den zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die Antragsgegnerin hat die Abschiebung der Antragsteller nach Kroatien zu Unrecht angeordnet. [...]

26 Es bestehen jedoch erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass die Zuständigkeit Kroatiens aus verfahrensbezogenen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen ist.

27 Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) mit sich bringen. [...]

29 Für solche systemischen Schwachstellen im kroatischen Asylsystem spricht, dass es an der kroatischen EU-Außengrenze seit Langem und in erheblichem Umfang zu gewaltsamen "Push-backs", dem Abdrängen von Asylbewerbern nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina, kommt. Auch Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina von Österreich, Italien oder Slowenien aus sind hinreichend belegt. Jedenfalls ohne individuelle Zusicherung von Seiten der kroatischen Behörden ist nicht sichergestellt, dass im Wege des Dublin-Verfahrens an Kroatien rücküberstellte Antragsteller nicht ebenfalls Opfer gewaltsamer Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina werden und ihr Recht auf Asylantragstellung dadurch vereitelt werden wird.

30 Kroatien steht bei der Sicherung der EU-Außengrenzen gegen illegale Migration unter Druck des Rates der EU, denn eine effektive Grenzsicherung ist Voraussetzung für einen Beitritt zum visumsfreien Schengen-Raum, den das Land schon lange anstrebt (European Council on Refugees and Exiles, ecre.org/balkan-route-route-shifts-but-pushbacks-continue-croatian-schengen-accession-approvedamid-mounting-reports-of-violations-and-confusion-over-independent-border-monitoring-report/, 17.12.2021). Schon im März 2019 beschrieben Polizisten des Grenzschutzes in einem anonymen Beschwerdebrief an die kroatische Ombudsfrau die Anordnungen an die Einsatzkräfte: "Es gibt kein Asyl, nur in Ausnahmesituationen, wenn Medien vor Ort sind. Die Befehle des Chefs, der Exekutive und der Verwaltung lauten, alle [Flüchtlinge] ohne Papiere zurückzuschicken, keine Spuren zu hinterlassen, Geld zu nehmen, Handys zu zerbrechen, sie in [einen Fluss] zu werfen, oder für sich selbst zu nehmen, und Flüchtlinge gewaltsam nach Bosnien zurückzuschicken. […] Wenn sie von den anderen Polizeistationen hierher gefahren werden, sind die Leute erschöpft, manchmal werden sie verprügelt, und dann sind wir es, die sie in der Nacht fahren und mit Gewalt nach Bosnien zurückschieben." (Border Violence Monitoring Network, www.borderviolence.eu/complaint-by-croatian-police-officers-who-are-being-urged-to-actunlawfully/, 17.07.2019). Die ehemalige Staatspräsidentin Kroatiens Kolinda Grabar-Kitarović antwortete im Juli 2019 auf die Frage nach gewaltsamem Vorgehen gegen Migranten an der bosnisch-kroatischen Grenze: "Natürlich ist ein wenig Gewalt nötig, wenn wir Push-backs durchführen." (The Guardian, www.theguardian.com/world/2019/jul/16/croatian-police-use-violence-to-push-back-migrants-sayspresident, 16.07.2019).

31 Eine Delegation des Europäischen Komitees des Europarats zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe erfuhr bei seinen Ermittlungen in Kroatien im Sommer 2020 von zahlreichen Fällen körperlicher Misshandlungen ausländischer Staatsangehöriger durch kroatische Polizeibeamte. Der Bericht konnte erst mit einem Jahr Verspätung veröffentlicht werden, weil die kroatische Regierung und das Innenministerium lange versucht hatten, seine Veröffentlichung zu verhindern (04.12.2021, Inicijativa Dobrodošli!/ Welcome! Initiative, welcome.cms.hr/index.php/2021/12/04/objavljeno-izvjesce-odbora-vijeca-europe-za-sprjecavanje-mucenja-o-situaciji-u-hrvatskoj-kojeje- godinu-dana-stopirala-hrvatska-vlada-i-mup/#). Die Delegation berichtet darin von gewaltsamen Übergriffen, die in Form von Ohrfeigen, Tritten, Schlägen mit Knüppeln und anderen harten Gegenständen (z. B. Läufen von automatischen Waffen, Holzstöcken oder Ästen) auf verschiedene Körperteile ausgeübt wurden. Die von den befragten Migranten beschriebenen Misshandlungen erfolgten dabei sowohl zum Zeitpunkt des "Abfangens" und der faktischen Festnahme auf kroatischem Hoheitsgebiet, d. h. mehrere, bis zu fünfzig Kilometer oder mehr von der Grenze entfernt, wie auch zum Zeitpunkt der "Umleitung", d. h. des Zurückdrängens über die Grenze zu Bosnien-Herzegowina. In einer beträchtlichen Anzahl von Fällen wiesen die befragten Personen körperliche Verletzungen auf, die mit ihren Behauptungen, von kroatischen Polizeibeamten misshandelt worden zu sein, übereinstimmten. Schutzbedürftigen Personen wie Familien mit Kindern und Frauen habe die Polizei keine medizinische Nothilfe geleistet, sondern sie gewaltsam zur Grenze zurück transportiert. Zudem berichteten Migranten, sie seien auch anderen Formen schwerer und demütigender Misshandlungen ausgesetzt gewesen. Polizeibeamte hätten aus nächster Nähe Kugeln in ihre Richtung gefeuert, während sie am Boden lagen, oder hätten sie mit gefesselten Händen in den Fluss Korana geworfen. Schließlich seien sie ohne Schuhe und nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet, in einigen Fällen sogar völlig nackt, nach Bosnien-Herzegowina zurückgeschoben worden. Der Bericht erwähnte zudem, von Slowenien rückübernommene Migranten seien ebenfalls von diesen Maßnahmen betroffen (Europarat, CPT Report to the Croatian Government on the visit to Croatia from 10 to 14 August 2020, 03.12.2021, S. 9-10, 14-15). [...]

33 Auch in jüngster Vergangenheit setzt sich die rechtswidrige Praxis der "Push-backs" in Kroatien fort.

34 Das European Council on Refugees and Exiles registrierte die Durchführung von mehr als 30.000 "Push-backs" aus Kroatien nach Bosnien-Herzegowina zwischen Juni 2019 und September 2021, bei denen Zeugen von exzessiver Gewaltanwendung und einem Muster von "invasiver Durchsuchung" und sexueller Gewalt durch die Polizei berichteten. [...]

35 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte am 18.11.2021 (M. H. and others v. Croatia, Az. 15670/18 und 43115/18) über den Tod der sechsjährigen Afghanin Madina Hussiny, die nahe der kroatisch-serbischen Grenze von einem Zug erfasst worden war. Der Gerichtshof stellte fest, die kroatischen Behörden hätten es versäumt, eine wirksame Untersuchung der Umstände durchzuführen, die zum Tod des Mädchens geführt hätten, insbesondere des Vorwurfs ihrer Familienmitglieder, sie hätten zuvor die Grenze überquert, seien von kroatischen Polizisten aufgegriffen, zurücktransportiert und aufgefordert worden, über die Bahngleise nach Serbien zurückzulaufen, wo es sodann zu dem tödlichen Unfall gekommen sei. Darin liege eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Ausprägung des Art. 2 EMRK (Recht auf Leben). Der EGMR verurteilte den kroatischen Staat dazu, den Angehörigen des Kindes eine Entschädigung zu zahlen.

36 Wesentliche Verbesserungen sind auch nicht feststellbar durch die Implementierung des kroatischen Grenzüberwachungsmechanismus im August 2021. [...]

39 Mit Urteil vom 01.07.2021 erklärte das Landesverwaltungsgericht Steiermark "Push-backs" an der österreichischen Grenze, die in Kettenabschiebungen über Slowenien und Kroatien nach Bosnien- Herzegowina mündeten, für rechtswidrig (Az. LVwG 20.3-2725/2020). Entsprechend entschied bereits das ordentliche Gericht Roms am 18.01.2021 über "informelle Rückübernahmen" von Italien nach Slowenien, die zu Kettenabschiebungen über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina führten (Az. 56420/2020, www.questionegiustizia.it/data/doc/2794/2021-700-senza-dati-sensibili.pdf). Am 17.07.2020 verurteilte auch der slowenische Verwaltungsgerichtshof Kettenabschiebungen von Slowenien über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina als Verstoß gegen das Non-Refoulement-Gebot (Border Violence Monitoring Network, www.borderviolence.eu/wp-content/uploads/Press-Release_Slovenian-Court-Ruling.pdf, 20.07.2020).

40 Darüber hinaus kam es auch bereits zu Gerichtsentscheidungen, in denen Dublin-Überstellungen nach Kroatien ausgesetzt wurden. [...]

42 Die in Kroatien praktizierten "Push-backs", Abschiebungen, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen und ein ordnungsgemäßes Asylverfahren zu erhalten, verstoßen gegen das Non-Refoulement-Prinzip. […] Hinzu kommen die regelmäßig mit den erzwungenen Rückführungen einhergehenden Gewaltakte, von Freiheitsentziehung über Körperverletzungen und herabwürdigende Behandlung von Migranten, die offenbar der Abschreckung dienen sollen. Darin liegt ein Verstoß gegen das in Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK verankerte Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung.

43 Es kann entgegen der bisherigen Annahme vieler Verwaltungsgerichte (VG Hannover, Beschluss vom 31.01.2022 – 7 B 6223/21 –, juris Rn. 29; VG Stade, Beschluss vom 05.01.2022 – 3 B 1271/21 –, n. v.; VG Ansbach, Beschluss vom 20.12.2021 – AN 14 S 21.50254 –, juris Rn. 44; VG Chemnitz, Beschluss vom 10.12.2021 – 4 L 519/21. A –, juris Rn. 31; VG München, Beschluss vom 24.02.2021 – M 30 S 21.50066 –,  juris Rn. 23) nicht davon ausgegangen werden, dass die dargestellten massiven Menschenrechtsverletzungen Dublin-Rückkehrer nicht betreffen.

44 Denn zu den zahllosen dokumentierten gewaltsamen und entwürdigenden Übergriffen und der Verweigerung des Rechts auf Asylantragstellung kam es nicht nur unmittelbar nach illegalen Grenzübertritten von Serbien oder Bosnien-Herzegowina aus, sondern auch in Fällen, in denen sich die Migranten bereits mehrere Tage im Landesinneren aufhielten, sogar dann, wenn sie bereits weit in andere EU-Länder wie Slowenien, Italien oder Österreich vorgedrungen waren und von dort aus zurückgeschoben wurden. Zwar liegen keine spezifischen Erkenntnismittel zum Verbleib von Dublin-Rückkehrern aus Deutschland vor, doch ist davon auszugehen, dass diese insbesondere angesichts der niedrigen Zahlen von den im Grenzgebiet tätigen Nichtregierungsorganisationen nicht separat erfasst werden. So wurden im ersten Halbjahr 2021 gerade einmal 19 Personen von Deutschland nach Kroatien abgeschoben (BT-Drs. 19/32290, S. 3), wovon Dublin-Rückkehrer nur einen Teil ausmachen dürften, während die kroatischen Behörden im gleichen Zeitraum mehrere Tausend "Push-backs" durchführten. Im Jahr 2020 kam es zu 16.425 "Pushbacks" (Danish Refugee Council, Bosnia and Herzegowina Border Monitoring Monthly Snapshot, Dezember 2020, S. 7) bei 22 Dublin-Rücküberstellungen aus Deutschland im selben Zeitraum (UNHCR, Croatia 2020 Annual Statistical Snapshot, 05.02.2021).

45 Fraglich ist die Aufnahmebereitschaft Kroatiens auch deshalb, weil landesweit nur zwei Aufnahmeeinrichtungen (Hotel Porin und Kutina) mit insgesamt 700 Aufnahmeplätzen zur Verfügung stehen (Asylum Information Database, Types of Accomodation Croatia, 27.05.2021), von denen noch im Dezember 2020 lediglich 328 Plätze belegt waren (UNHCR, Croatia 2020 Annual Statistical Snapshot, 05.02.2021). Aus den genannten Erkenntnismitteln wird zudem ersichtlich, dass es sich bei den gewaltsamen Rückschiebungen nicht um eigenmächtige Übergriffe einzelner Polizeibeamter handelt, sondern dass das Abdrängen der Migranten nach Bosnien-Herzegowina entweder tatsächlich einer internen Weisungslage entspricht oder jedenfalls von den vorgesetzten Stellen nicht effektiv verhindert bzw. sanktioniert wird.

46 Während durch die vorliegenden Erkenntnismittel hinreichend belegt ist, dass Kroatien in systematischer Art und Weise menschenrechtswidrig gegen Migranten vorgeht, bestehen zugleich keine gesicherten Erkenntnisse darüber, dass Dublin-Rückkehrern aus Deutschland gegenüber anderen Asylbewerbern eine Vorzugsbehandlung zuteilwird. Dementsprechend bietet den Antragstellern auch die Rückführung nach Kroatien auf dem "regulären Weg" keine Sicherheit, nicht zum Gegenstand von "Push-backs" gemacht und nach Bosnien-Herzegowina rückgeführt zu werden, ohne dass sie vorher angehört würden oder dass ihnen ein wirksamer Rechtsschutz gegen die Entscheidung zur Verfügung stünde. Dies ist insbesondere auch nicht deshalb gewährleistet, weil die Antragsteller während ihres vorherigen 1,5-monatigen Aufenthalts in Kroatien Aufnahme in einem Flüchtlingslager gefunden haben. Es ist nicht erkennbar, aufgrund welcher Kriterien die kroatischen Behörden sich gerade den Antragstellern gegenüber aufnahmebereit zeigten, sodass auch nicht davon ausgegangen werden kann, dass dies bei einer Rückschiebung erneut der Fall sein wird. Angesichts zahlreicher Berichte über "Push-backs" von Minderjährigen sowie der Schilderung der Antragstellerin zu 1), sie sei von kroatischen Polizisten verprügelt und ihre Papiere seien verbrannt worden, bestehen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsteller gerade aufgrund ihrer Vulnerabilität mehr Rücksichtnahme erwarten können. Vielmehr hat die Antragstellerin zu 1) als Analphabetin und insbesondere in der permanenten Verantwortung für ihren schwerstbehinderten Sohn keine Möglichkeiten, sich gegen eine willkürliche Behandlung durch die kroatischen Behörden zur Wehr zu setzen. [...]