VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Beschluss vom 08.03.2022 - 2 B 47/22 - asyl.net: M30528
https://www.asyl.net/rsdb/m30528
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung wegen Pushbacks in Slowenien:

"1. Es bestehen erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass slowenische Behörden durch zwangsweise Rück­schiebungen von Geflüchteten nach Kroatien das Recht auf Asylantragstellung gezielt vereiteln und damit gegen das Non-Refoulement-Gebot verstoßen.

2. Aufgrund der Beteiligung Sloweniens an Kettenabschiebungen aus anderen EU-Ländern kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch Dublin-Rückkehrer aus Deutschland Opfer von Pushbacks werden."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Slowenien, Pushback, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Refoulement, EMRK, Kettenabschiebung, Polizei, Genfer Flüchtlingskonvention, Dublin III-Verordnung, Zurückschiebung, Zurückweisung, Non-Refoulement, Europäische Menschenrechtskonvention,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2014/EU Art. 3 Abs. 2, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

21 Der Antrag ist auch begründet. Das Interesse der Antragstellerin an einem vorläufigen Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung. Die Anordnung der Abschiebung nach Slowenien erweist sich zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) und bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung als rechtswidrig.

22 Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ordnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Abschiebung eines Antragstellenden in den zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die Antragsgegnerin hat die Abschiebung der Antragstellerin nach Slowenien zu Unrecht angeordnet. [...]

24 Es bestehen jedoch erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass die Zuständigkeit Sloweniens aus verfahrensbezogenen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen ist.

25 Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) mit sich bringen. [...]

27 Für solche systemischen Schwachstellen im slowenischen Asylsystem spricht, dass es an der slowenisch-kroatischen Grenze seit Langem und in erheblichem Umfang zu "Push-backs", dem erzwungenen Abdrängen von Asylbewerbern, kommt. Auch Kettenabschiebungen von Österreich und Italien über Slowenien nach Kroatien und von dort wiederum nach Bosnien-Herzegowina sind hinreichend belegt. Jedenfalls ohne individuelle Zusicherung von Seiten der slowenischen Behörden ist nicht sichergestellt, dass im Wege des Dublin-Verfahrens an Slowenien rücküberstellte Antragsteller nicht ebenfalls Opfer von Kettenabschiebungen nach Kroatien werden und ihr Recht auf Asylantragstellung dadurch vereitelt werden wird. [...]

29 Zugleich versucht die slowenische Regierung jedoch schon seit Längerem, das Recht auf Asylantragstellung massiv einzuschränken. Anfang 2017 verabschiedete Slowenien Änderungen des Ausländergesetzes, die dem Parlament eine Aussetzung des Asylrechts ermöglichten, wenn die Migration "eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit in der Republik Slowenien" darstellt. Die Polizei sollte sodann gesetzlich angewiesen werden, alle Absichtserklärungen, internationalen Schutz zu beantragen, als unzulässig abzulehnen und die antragstellende Person abzuschieben, wenn diese aus einem benachbarten EU-Mitgliedstaat nach Slowenien eingereist war, in dem keine systematischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen bestehen. Das slowenische Verfassungsgericht stellte fest (Az. U-I-59/17), dass die Änderungen gegen Artikel 18 der Verfassung, das Verbot der Folter und das daraus abgeleitete Gebot der Nichtzurückweisung, verstoßen. Dennoch kam es im März 2021 zu einer erneuten Gesetzesänderung, aufgrund derer das Parlament die Grenze für sechs Monate schließen und den Zugang zum Asylverfahren beschränken kann, wenn das Innenministerium das Bestehen einer "komplexen Krise im Bereich der Migration" annimmt. Die Polizei ist in dem Fall befugt, zu entscheiden, ob eine Person internationalen Schutz beantragen oder in ein anderes Land zurückgeschickt werden kann. Ausnahmen sollen für unbegleitete Minderjährige und solche Personen gelten, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zurückgeschickt werden können (Asylum Information Database (aida), Country Report: Slovenia, 01.03.2021, S. 18 f.) Fünfzehn Organisationen der slowenischen Zivilgesellschaft äußerten ernsthafte Bedenken über die neuen Vorschriften, die es ermöglichen, Flüchtlinge daran zu hindern, internationalen Schutz zu beantragen. Die neuen Bestimmungen stellen ihrer Meinung nach eine Aussetzung der Genfer Flüchtlingskonvention dar (Freedom House, Slovenia: Annual report on political rights and civil liberties in 2021, 28.02.2022; European Union Agency for Fundamental Rights (FRA), Overview of human rights concerns, 24.09.2021, S. 7).

30 Dafür, dass diese Befürchtung berechtigt ist, spricht, dass Slowenien schon seit Jahren Migranten durch informelle und verkürzte Verfahren ohne Rückführungsentscheidung und ohne Zugang zu rechtlichem Beistand oder die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, in Nachbarländer, vor allem Kroatien, zurückführt (Amnesty International, Slovenia 2019, 16.04.2020). Dieses Vorgehen basiert auf bilateralen Rückführungsabkommen zwischen den Nachbarländern. Zwischen Juni 2018 und August 2021 soll Slowenien insgesamt 27.000 Personen zurückgeschoben haben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA)  Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Slowenien, 09.12.2021, S. 3 f.). Eine Identifizierung von schutzbedürftigen Personen soll dabei nicht stattfinden (Asylum Information Database (aida), Country Report: Slovenia, 01.03.2021, S. 19). Die slowenische Polizei registrierte eigenen Veröffentlichungen zufolge im Jahr 2020 14.592 illegale Überquerungen der Grenze; von den Migranten sollen jedoch nur 4.008 die Absicht geäußert haben, internationalen Schutz zu beantragen, und dementsprechend Zugang zu einem Asylverfahren erhalten haben. 10.025 Ausländer seien auf der Grundlage internationaler Vereinbarungen an ausländische Sicherheitsbehörden zurückgeführt worden, die meisten davon nach Kroatien (Uprava Uniformirane Policje, Sektor mejne policij, Ilegalne migracije na obmocju republike sloenije, www.policija.si/images/stories/Statistika/MejnaProblematika/IlegalneMigracije/2020/Januardecember_2020.pdf; übersetzt mit deepL Translator). Allerdings gibt es zahlreiche detaillierte Berichte des Border Violence Monitoring Network von Einzelpersonen oder Personengruppen, die zwischen Januar 2018 und Januar 2022 nach Kroatien und von dort nach Bosnien-Herzegowina zurückgeschoben worden sein sollen, obwohl sie ausdrücklich um Gewährung von Asyl gebeten hatten (Border Violence Monitoring Network (BVMN), Testimony Database, www.borderviolence.eu/violence-reports/; European Union Agency for Fundamental Rights (FRA), Overview of human rights concerns, 24.09.2021, S. 10). [...]

36 All dies spricht dafür, dass Migranten in Slowenien in einem Polizeiverfahren systematisch der Zugang zum Asylverfahren verwehrt wird. Die Rückübernahmeabkommen, die eine so genannte "informelle Rückführung" von irregulär eingereisten Drittstaatsangehörigen ohne förmliches Verfahren vorsehen, enthalten keine ausreichenden Garantien, um die Menschen vor einer möglichen Zurückweisung zu schützen (Europarat, Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence (GREVIO), Baseline Evaluation Report Slovenia, 12.10.2021, S. 75). Diese Abkommen stellen ein System dar, das
außerhalb des EU-Rechts und der Bestimmungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems liegt und nicht den dort geforderten Standards entspricht.

37 Die in Slowenien praktizierten "Push-backs" und Kettenabschiebungen, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen und ein ordnungsgemäßes Asylverfahren zu erhalten, verstoßen gegen das Non-Refoulement-Prinzip. Dieses Prinzip ist verankert in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der bestimmt, keiner der vertragschließenden Staaten werde einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. Nach Rechtsprechung des EGMR liegt in der Zurückweisung eines Asylantrags zudem ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK, wenn der ausweisende Staat zuvor nicht prüft und bewertet, ob es infolge der Ausweisung zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Antragstellers kommen kann (EGMR, Urteil vom 14.03.2017 - 47287/15 -, beck-online Rn. 112 ff.). Das Folterverbot verbietet den Staaten nicht nur, sich aktiv an Folter oder unmenschlicher Behandlung zu beteiligen, sondern verpflichtet sie auch, eine Person nicht in eine Lage zu versetzen, in der sie einer solchen Behandlung oder Bestrafung durch andere Staaten ausgesetzt ist, auch nicht durch Abschiebung. Ferner ist das Non-Refoulement-Gebot verankert in Art. 21 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 (Qualifikationsrichtlinie), der besagt, dass die Mitgliedstaaten den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen achten.

38 Es bestehen bereits erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass es von Seiten der slowenischen Grenzschutzbeamten, wenn wohl auch noch nicht regelhaft, aber dennoch immer wieder zu Gewaltakten im Zuge der erzwungenen Rückführungen kommt, die schon für sich genommen gegen die in Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK verankerten Verbote verstoßen. Unabhängig davon steht jedoch fest, dass den Migranten jedenfalls nach ihrer Abschiebung über die kroatische Grenze unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch die kroatische Polizei sowie gewaltsame "Push-backs" nach Bosnien-Herzegowina drohen (dazu im Einzelnen: VG Braunschweig, Beschluss vom 25.02.2022 - 2 B 27/22 -, juris).

39 Es kann schließlich entgegen der Auffassung anderer Verwaltungsgerichte (VG Würzburg, Beschluss vom 11.12.2020 - W 8 S 20.50299 -, juris Rn. 18; VG Saarlouis, Beschluss vom 07.09.2020 - 5 L 744/20 -, juris Rn. 32; VG Bremen, Beschluss vom 14.01.2020 - 4 V 2702/19 -, juris Rn. 17; VG Trier, Urteil vom 03.04.2019 - 7 K 5601/18.TR -, juris Rn. 42; VG Lüneburg, Beschluss vom 30.01.2019 - 8 B 216/18 -, juris Rn. 20) nicht davon ausgegangen werden, dass für Dublin-Rückkehrer keine systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in Slowenien bestehen, sie insbesondere unbeschränkten Zugang zum Asylverfahren erhalten. Denn zu der in zahlreichen Fällen dokumentierten Verweigerung des Rechts auf Asylantragstellung kam es nicht nur unmittelbar nach illegalen Grenzübertritten von Kroatien aus, sondern sogar dann, wenn die Migranten bereits in andere EU-Länder wie Italien oder Österreich vorgedrungen waren und von dort aus zurückgeschoben wurden. [...]

41 Zwar liegen keine spezifischen Erkenntnismittel zum Verbleib von Dublin-Rückkehrern aus Deutschland vor, doch ist davon auszugehen, dass diese insbesondere angesichts der niedrigen Zahlen von den im Grenzgebiet tätigen Nichtregierungsorganisationen nicht separat erfasst werden. So wurden im ersten Halbjahr 2021 gerade einmal 19 Personen von Deutschland nach Slowenien abgeschoben (BT-Drs. 19/27007, S. 4), wovon Dublin-Rückkehrer nur einen Teil ausmachen dürften, während die slowenischen Behörden nach eigenen Angaben im selben Zeitraum über 10.000 Menschen, mehrheitlich nach Kroatien, zurückgeschoben haben. Fraglich ist die Aufnahmebereitschaft Sloweniens auch deshalb, weil landesweit nur vier Aufnahmeeinrichtungen (Ljubljana, Kotnikova, Logatec und Postojna) mit insgesamt 401 Aufnahmeplätzen zur Verfügung stehen, von denen noch im September 2021 lediglich 185 Plätze belegt waren; hinzu kamen 24 in privaten Unterkünften untergebrachte Asylbewerber (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Slowenien, 09.12.2021, S. 8). [...]