VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 23.11.2021 - 9 A 221/19 MD - asyl.net: M30534
https://www.asyl.net/rsdb/m30534
Leitsatz:

Familienschutz für die Eltern eines bei Asylantragstellung minderjährigen Mädchens, welches später als Flüchtling anerkannt wurde:

"§ 26 Abs. 3 AsylG (juris: AsylVfG 1992) ist richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass es für die Gewährung von internationalem Schutz im Wege des Familienasyls nicht darauf ankommt, ob der Stammberechtigte im Zeitpunkt der (behördlichen oder gerichtlichen) Entscheidung über den Asyl(folge-)antrag der Eltern noch minderjährig ist, sondern im Zeitpunkt der Asylerstantragstellung (Rn.32)."

(Amtliche Leitsätze, unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 09.09.2021 - C-768/19 SE gg. Deutschland (Asylmagazin 3/2022, S. 86 ff.) - asyl.net: M29994)

Schlagwörter: Familienschutz, minderjährig, Beurteilungszeitpunkt, Volljährigkeit, Kind,
Normen: AsylG § 26 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

31 Nach der jüngsten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (U. v. 09.09.2021, Rs. C-768/19) ist Art. 2 lit. j Spiegelstrich 3 RL 2011/95/EU dahingehend auszulegen, dass in einer Situation, in der ein Asylantragsteller, der in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist ist, in dem sich sein nicht verheiratetes minderjähriges Kind aufhält, und der aus dem subsidiären Schutzstatus, der diesem Kind zuerkannt worden ist, einen Anspruch auf Asyl ableiten will, bei der Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz für die Frage, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, "minderjährig" im Sinne der nationalen Bestimmung ist, auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem der Antragsteller – gegebenenfalls formlos – seinen Asylantrag eingereicht hatte (s. EuGH, U. v. 09.09.2021, Rs. C-768/19 – juris, Rn. 52). Wenn als der für die Frage, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, "minderjährig" im Sinne von Art. 2 lit. j) Spiegelstrich 3 RL 2011/95/EU ist, maßgebende Zeitpunkt der Zeitpunkt zugrunde gelegt würde, zu dem die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats über den Asylantrag des Elternteils, der aus dem seinem Kind zuerkannten subsidiären Schutzstatus ein Recht auf subsidiären Schutz ableiten will, entscheidet, wäre dies weder mit den Zielen der Richtlinie noch mit den Anforderungen vereinbar, die sich aus dem auf die Förderung des Familienlebens abzielenden Art. 7 der Charta und aus ihrem Art. 24 Abs. 2 ergeben; Letzterer verlangt nämlich, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, zu denen die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Anwendung der Richtlinie getroffenen Maßnahmen gehören, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss (s. EuGH, U. v. 09.09.2021, Rs. C-768/19 – juris, Rn. 39).

32 Im Lichte dessen ist auch § 26 Abs. 3 AsylG richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass es für die Gewährung von internationalem Schutz im Wege des Familienasyls nicht darauf ankommt, ob der Stammberechtigte im Zeitpunkt der (behördlichen oder gerichtlichen) Entscheidung über den Asyl(folge-)antrag der Eltern noch minderjährig ist, sondern im Zeitpunkt der Antragstellung.

33 cc) Hinsichtlich der Frage, ob auf den Zeitpunkt der Stellung des Folgeantrags oder des Erstantrages abzustellen ist, ist jedenfalls in der hiesigen Fallkonstellation nicht die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Stellung des Folgeantrags maßgebend. Vielmehr sind vorliegend bei der Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen des § 26 Abs. 3 AsylG die Verhältnisse im Zeitpunkt der Erstantragstellung zugrunde zu legen.

34 Zwar ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in Folgeantragsverfahren von Familienangehörigen, mit denen im Wege des Wiederaufgreifens auch ein Anspruch auf Familienasyl geltend gemacht wird, grundsätzlich auf den Folgeantrag als verfahrenseinleitenden Antrag abzustellen (s. BVerwG zu § 26 Abs. 2 S. 1 AsylVfG, U. v. 17.12.2002 – 1 C 10/02 – juris, Rn. 9). Etwas Anderes gilt indes (u. a.) in den Fällen, in denen die Erstanträge minderjähriger lediger Kinder unanfechtbar abgelehnt wurden, bevor abschließend über die Asylberechtigung der Eltern entschieden worden ist. Diese Art der  Verfahrensgestaltung kann den Kindern auch dann nicht entgegengehalten werden, wenn sie im Zeitpunkt der unanfechtbaren Anerkennung eines stammberechtigten Elternteils und Stellung eines Folgeantrages volljährig bzw. nicht mehr ledig sind (s. BVerwG, U. v. 17.12.2002 – 1 C 10/02 – juris, Rn. 8). Die Maßgeblichkeit der Erstanträge ergibt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts insbesondere aus der Erwägung, dass mit der durch das Asylverfahrensgesetz vom 26.06.1992 erfolgten Neufassung des Familienasyls für Minderjährige der Schutzumfang erweitert werden und erreicht werden sollte, dass sich eine längere Verfahrensdauer bis zu einer behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung nicht nachteilig auf die Kinder auswirkt. Probleme, die sich daraus ergeben, dass das Bundesamt und die Gerichte über die Asylanträge von Kindern in der Praxis schon dann ablehnend entscheiden, wenn noch nicht unanfechtbar feststeht, dass sie auch kein Familienasyl erhalten können, dürfen deshalb nicht zu Lasten der Kinder gelöst werden. Das aber wäre der Fall, wenn ein Folgeantrag der Kinder nach unanfechtbarer Ablehnung ihres Erstantrags und nachträglicher Anerkennung eines Elternteils - aufgrund des gleichzeitig (oder in unmittelbarem Zusammenhang) gestellten Asylantrags - allein deswegen erfolglos bliebe, weil sie inzwischen (und letztlich wegen der Verfahrensgestaltung des Bundesamts oder der Gerichte) volljährig geworden sind (s. BVerwG, U. v. 17.12.2002 – 1 C 10/02 – juris, Rn. 7). [...]