OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 23.02.2022 - 1 Bf 282/20.A - asyl.net: M30541
https://www.asyl.net/rsdb/m30541
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für afghanischen Mann wegen unglaubhafter Aussagen zu familiärem Netzwerk:

"[1.] Derzeit werden auch junge, erwachsene, gesunde und alleinstehende afghanische Männer, die im heimischen Kulturkreis sozialisiert wurden und mindestens eine der Landessprachen sprechen, bei Rückkehr nach Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ohne weiteres zur Sicherung ihres Existenzminimums in der Lage sein [...].

[2.] Eine andere Bewertung ist jedoch bei Hinzutreten besonderer Umstände in der Person des Betroffenen geboten, wenn diese die Prognose erlauben, ihm werde die Sicherung des Existenzminimums im Einzelfall trotz der derzeitigen humanitären Lage in Afghanistan gelingen.

[3.] Solche positiven Umstände, die im Einzelfall eine Sicherung des Existenzminimums erwarten lassen, liegen insbesondere vor, wenn der Betroffene Zugang zu qualifizierter Arbeit wird erlangen können, über ein bestehendes tragfähiges familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk in Afghanistan, erhebliches Vermögen oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland verfügt; maßgeblich ist eine Würdigung aller Umstände des Einzelfalls."

(Amtliche Leitsätze; unter teilweise Abkehr von OVG Hamburg, Urteil vom 25.03.2021 - 1 Bf 388/19.A - asyl.net: M29750)

Schlagwörter: Afghanistan, Iran, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Corona-Virus, humanitäre Gründe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer, Arbeitslosigkeit, Existenzminimum, soziales Netzwerk, familiäres Netzwerk,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Bezug auf Afghanistan. [...]

Der Senat geht davon aus, dass bezogen auf den Abschiebungszielstaat Afghanistan die vorgenannten strengen Anforderungen maßgeblich sind, weil für die dortigen humanitären Verhältnisse auch nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 nicht allein ein bestimmter (staatlicher) Akteur verantwortlich ist. Sie beruhen vielmehr auf einer Vielzahl von Faktoren, darunter die allgemeine wirtschaftliche Lage, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen (so auch die bisherige Rechtsprechung zur Lage vor der Machtübernahme durch die Taliban, vgl. nur VGH Kassel, Urt. v. 23.8.2019, 7 A 2750/15.A, juris Rn. 48; OVG Koblenz, Urt. v. 30.11.2020, 13 A 11421/19, juris Rn. 112; VGH Mannheim, Urt. v. 17.12.2020, A 11 S 2042/20, juris Rn. 25; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 108 ff.; VG Karlsruhe, Urt. v. 6.7.2020, A 12 K 9279/18, n.v., UA S. 22; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 13.2.2019, 1 B 2.19, juris Rn. 10; Urt. v. 31.1.2013, 10 C 15.12, juris Rn. 25) sowie die speziellen wirtschaftlichen Folgen der Machtübernahme durch die Taliban. [...]

2. In Anwendung der vorgenannten Maßstäbe kann der Senat im vorliegenden Fall nicht feststellen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan bzw. Kabul infolge der dort herrschenden allgemeinen humanitären Verhältnisse in die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK geriete.

a) Allerdings geht der Senat – anders als noch in seinem Urteil vom 25. März 2021 (1 Bf 388/19.A, juris) – nicht mehr davon aus, dass junge, erwachsene, gesunde und alleinstehende afghanische Männer, die im heimischen Kulturkreis sozialisiert wurden und mindestens eine der Landessprachen sprechen, im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan bzw. Kabul dort in der Regel ihr Existenzminimum werden sichern können und deshalb nicht in die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung geraten werden. [...]

bb) Seit der Entscheidung des Senats vom 25. März 2021 (1 Bf 388/19.A) hat sich die humanitäre Situation in Afghanistan jedoch in einer für die Beurteilung am Maßstab des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK maßgeblichen Weise verschlechtert. Aufgrund dieser Veränderungen geht der Senat derzeit davon aus, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch junge, erwachsene, gesunde und alleinstehende afghanische Männer, die im heimischen Kulturkreis sozialisiert wurden und mindestens eine der Landessprachen sprechen, bei Rückkehr nach Afghanistan nicht ohne weiteres zur Sicherung ihres Existenzminimums in der Lage sein werden (vgl. auch VG Hamburg, Urt. v. 26.11.2021, 1 A 31/21, juris; Urt. v. 29.11.2021, 4 A 2298/21, n.v.; VG München, Urt. v. 27.09.2021, M 6 K 17.37655, juris; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 20.09.2021, 5a K 6073/17.A, juris; VG Cottbus, Urt. v. 03.11.2021, 8 K 306/17.A, juris; VG Köln, Urt. v. 18.1.2022, 2 K 2078/17.A , juris Rn. 46). Eine andere Bewertung ist jedoch bei Hinzutreten besonderer Umstände in der Person des Betroffenen geboten, wenn diese die Prognose erlauben, ihm werde die Sicherung des Existenzminimums im Einzelfall trotz der derzeitigen humanitären Lage in Afghanistan gelingen. Solche positiven Umstände, die im Einzelfall eine Sicherung des Existenzminimums erwarten lassen, liegen insbesondere vor, wenn der Betroffene Zugang zu qualifizierter Arbeit wird erlangen können, über ein bestehendes tragfähiges familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk in Afghanistan, erhebliches Vermögen oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland verfügt; maßgeblich ist eine Würdigung aller Umstände des Einzelfalls.

cc) Diese Annahme beruht auf folgender Beurteilung der derzeitigen Verhältnisse in Afghanistan:

(1) Seit der Machtübernahme durch die Taliban am 15. August 2021 ist das Land in eine der schwersten wirtschaftlichen und humanitären Krisen seiner jüngeren Geschichte geraten. Schon zuvor hatte sich die Lage der chronisch schwachen afghanischen Wirtschaft infolge der SARS-CoV-2-Pandemie und anhaltender Dürreperioden erheblich verschlechtert. [...]

(2) Die gravierende Verschlechterung der allgemeinen wirtschaftlichen und humanitären Lage beeinträchtigt auch konkret die Möglichkeit eines Rückkehrers, in Afghanistan bzw. Kabul seinen Lebensunterhalt auf dem durch Art. 3 EMRK gebotenen (niedrigen) Mindestniveau des Existenzminimums zu sichern. Während die Preise für Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs seit August 2021 zum Teil deutlich gestiegen sind (unten (a)), sind die Möglichkeiten eines ungelernten Arbeiters, einen Verdienst zu erzielen, drastisch gesunken; sie erlauben aktuell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht mehr die Sicherung des Existenzminimums (unten (b)). Einem Rückkehrer stehen derzeit auch keine Rückkehrhilfen mehr zur Verfügung (unten (c)). Die tatsächliche Gefahr der fehlenden Sicherung des Existenzminimums nach Rückkehr wird auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch die Verfügbarkeit humanitärer Hilfe ausgeräumt (unten (d)). [...]

(b) Die so geschätzten Kosten zur Sicherung des Existenzminimums lassen sich mit dem durchschnittlichen Einkommen, das ein ungelernter Arbeiter derzeit auf dem Arbeitsmarkt in Afghanistan bzw. Kabul voraussichtlich wird erzielen können, nicht annähernd bestreiten. [...]

Der Senat legte seiner Entscheidung vom 25. März 2021 des Weiteren einen Tageslohn für einen ungelernten Arbeiter in Höhe von durchschnittlich 350 AFN in der (saisonal ungünstigen) Spätwintersituation Ende Februar 2021 zugrunde. Davon ausgehend kam er zu dem Ergebnis, ein Rückkehrer könne durch ungelernte Tagelöhnertätigkeit im ungünstigsten Fall monatlich jedenfalls 3.000 AFN (2 Arbeitstage pro Woche zu einem Tageslohn von 350 AFN) verdienen (OVG Hamburg, Urt. v. 25.3.2021, 1 Bf 388/19.A, juris Rn. 111, 149 m.w.N.).

(bb) Diese Prognose lässt sich jedoch angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage in Afghanistan nicht mehr aufrechterhalten, selbst wenn unterstellt wird, ein Rückkehrer ohne familiäres oder soziales Netzwerk habe auch derzeit noch Zugang zum Markt der Tagelöhner. Denn die Möglichkeiten, als Gelegenheitsarbeiter ein Einkommen zu erzielen, sind seit August 2021 drastisch reduziert (vgl. allgemein ANN/van Bijlert, Living in a collapsed economy (1), 7.12.2021: Einkommensquellen in Form von Gelegenheitsarbeiten und Selbstständigkeit "nahezu kollabiert"; ferner IOM, Comprehensive Action Plan for Afghanistan and neighbouring countries, 23.9.2021, S. 4: "Daily labour opportunities are disappearing at an alarming pace"): [...]

(c) Anders als der Senat in seinem Urteil vom 25. März 2021 (Urt. v. 25.3.2021, 1 Bf 388/19.A, juris Rn. 125 ff.) noch annehmen konnte, stehen einem (freiwilligen) Rückkehrer aus Deutschland nach Afghanistan während und in den ersten Monaten nach seiner Rückkehr auch keine Hilfsangebote, insbesondere in Gestalt von Geldleistungen, mehr zur Verfügung. Diese Hilfen sind nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 bis auf weiteres ausgesetzt worden (vgl. www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan).

(d) Bei der Prognose, ob ein Rückkehrer in seinem Heimatstaat in die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Verelendung gerät, sind auch Unterstützungs- oder Hilfeleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Institutionen zu berücksichtigen, die tatsächlich hinreichend geeignet sind, eine solche Verelendung abzuwenden. Denn die Wahrung des Existenzminimums ist allein ergebnisbezogen (vgl. im Kontext von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und Art 4 GRC BVerwG, Urt. v. 7.9.2021, 1 C 3.21, juris Rn. 23 ff.).

Derzeit kann jedoch noch nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass das Existenzminimum eines Afghanistan-Rückkehrers aus der Gruppe des Klägers durch die Hilfen internationaler Organisationen gesichert werden wird. Zwar haben die Vereinten Nationen in Zusammenarbeit mit den vor Ort tätigen Hilfsorganisationen einen Aktionsplan zur Bekämpfung der aktuellen humanitären Notlage aufgestellt. Hierbei handelt es sich jedoch zum einen bisher größtenteils um lediglich geplante Hilfeleistungen, für deren vollständige Umsetzung die notwendigen Mittel noch bereitgestellt werden müssen (unten (aa)). Zum anderen ist die Umsetzung der geplanten Hilfen aktuell auch deshalb noch mit Zweifeln befrachtet, weil einer ungehinderten Übermittlung der benötigten finanziellen Ressourcen nach und innerhalb von Afghanistan noch die Krise des afghanischen Finanz- und Bankenwesens entgegenstehen dürfte (unten (bb)). [...]

b) Nach dem Vorstehenden ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger schon aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der jungen, gesunden, alleinstehenden und im heimischen Kulturkreis sozialisierten Männer ohne weiteres in der Lage sein wird, in Afghanistan sein Existenzminimum zu sichern. Dennoch kann der erkennende Senat im vorliegenden Einzelfall nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verelendung des Klägers im Falle seiner Rückkehr feststellen. Denn der Senat ist nicht mit dem erforderlichen Grad der Gewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) davon überzeugt, dass in der Person des Klägers keine besonderen begünstigenden Umstände (s.o. unter I. 2. a) bb) – S. 12) bestehen, die ausnahmsweise erwarten lassen, dass er im Falle seiner Rückkehr sein Existenzminimum werde sichern können. Zwar hat der Kläger mit den von ihm vorgelegten Nachweisen nachvollziehbar dargetan, im Bundesgebiet über kein eigenes Vermögen zu verfügen, das ihm das Überleben in Afghanistan sichern könnte. Es steht jedoch nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass er in Afghanistan nicht die Unterstützung eines tragfähigen familiären Netzwerks in Anspruch nehmen könnte. Dabei gelten für die Bildung der Überzeugungsgewissheit im vorliegenden Fall die folgenden Grundsätze (zum Folgenden BVerwG, Urt. v. 4.7.2019, 1 C 33/18, juris Rn. 19 ff.): [....]

Im vorliegenden Fall hängt der Erfolg der Klage nach den oben aufgestellten Grundsätzen davon ab, ob zur Überzeugung des Gerichts feststeht, dass in der Person des Klägers keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen, die ihm eine Sicherung des Existenzminimums in Afghanistan ermöglichen. [...]

Kann das Gericht weder in die eine noch in die andere Richtung eine Überzeugung gewinnen, ist es insbesondere nicht davon überzeugt, dass in der Person des Schutzsuchenden keiner der genannten positiven Umstände vorliegt, die eine Existenzsicherung erlauben könnten, und sieht es keine Anhaltspunkte für eine weitere Sachverhaltsaufklärung (non liquet), so hat es die Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals festzustellen und eine Beweislastentscheidung zu treffen (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.7.2019, 1 C 33.18, juris Rn. 22; VGH Mannheim, Urt. v. 17.12.2020, A 11 S 2042/20, juris Rn. 115; OVG Hamburg, Urt. v. 11.1.2018, 1 Bf 81/17.A, juris Rn. 41 ff.). Wer die (materielle) Beweislast trägt, bestimmt sich nach materiellem Recht und ist in Auslegung der im Einzelfall einschlägigen Normen zu ermitteln; enthalten diese keine besonderen Regelungen, so greift der allgemeine Rechtsgrundsatz ein, dass die Nichterweislichkeit von Tatsachen, aus denen eine Partei ihr günstige Rechtsfolgen herleitet, zu ihren Lasten geht. Danach trägt grundsätzlich der Schutzsuchende die materielle Beweislast für das Vorliegen der positiven Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs (BVerwG, a.a.O., Rn. 25 f.), im vorliegenden Fall der begehrten Feststellung eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK also für die ihm günstige Behauptung der drohenden Verelendung in Afghanistan (VGH Mannheim, a.a.O.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen konnte der Senat im vorliegenden Fall nach der persönlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht zu der Überzeugung gelangen, dass er im Falle seiner Rückkehr keinen Zugang zu einem tragfähigen familiären Netzwerk in Afghanistan hätte und es ihm deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht gelänge, in Afghanistan wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen. Der Kläger hat seine Behauptung, er verfüge über keine Verbindungen mehr zu Verwandten in Afghanistan und sein einziger familiärer Kontakt bestehe zu seiner im Iran lebenden Schwester und deren Familie, für das Gericht nicht überzeugend darlegen können. Der Vortrag des Klägers zu seinen familiären Verhältnissen wies in wesentlichen Punkten eine auffällige Detailarmut und Unstimmigkeiten auf, die der Kläger auch auf Vorhalt nicht überzeugend auflösen konnte: [...]

Zusammengefasst ist es dem Kläger in Anbetracht der dargestellten Detailarmut, Vagheit und Unstimmigkeit in wesentlichen Punkten seiner Ausführungen nicht gelungen, einen stimmigen Sachverhalt zu seinen familiären Umständen in Afghanistan zu schildern, aus dem sich zur Überzeugung des erkennenden Senats ergäbe, dass er dort über keine Verwandtschaftsbeziehungen mehr verfügt, auf die er im Falle seiner Rückkehr zurückgreifen könnte. Der Senat ist wegen der bestehenden Zweifel an den Angaben des Klägers nicht in der Lage, auf ihrer Grundlage überhaupt eine Überzeugungsgewissheit zu der Frage zu gewinnen, wie sich seine familiären Verhältnisse in Afghanistan derzeit tatsächlich darstellen. Anhaltspunkte für eine weitere Aufklärung dieser Verhältnisse sieht der Senat nicht. Die damit festzustellende Nichterweislichkeit des behaupteten Fehlens eines familiären Netzwerks, das ihn bei der Sicherung des Existenzminimums unterstützen könnte, geht nach den oben dargelegten Beweislastgrundsätzen zu Lasten des Klägers. [...]