VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 02.03.2022 - 1 K 194/21.A - asyl.net: M30547
https://www.asyl.net/rsdb/m30547
Leitsatz:

Keine Bindungswirkung der Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates für neues Asylverfahren in Deutschland:

1. Ein Asylantrag von in einem anderen Mitgliedstaat schutzberechtigten Personen darf nicht als unzulässig abgelehnt werden, wenn bei einer Rückkehr dorthin eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Vielmehr hat das BAMF in diesem Fall eine neues Asylverfahren durchzuführen.

2. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat besitzt keine unmittelbare Bindungswirkung für die Entscheidung in einem neuen Verfahren in der Bundesrepublik. Folglich kann das BAMF eine erneute inhaltliche Prüfung der Anträge vornehmen und eine eigenständige Entscheidung treffen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Griechenland, internationaler Schutz in EU-Staat, Flüchtlingsanerkennung, Aufstockungsklage, Upgrade-Klage, Bindungswirkung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 2, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

I. Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt nicht bereits daraus, dass der Klägerin zu 1. in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde.

1. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist Art. 33 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 60, sog. Asylverfahrensrichtlinie, im Folgenden: RL 2013/32/EU) dahingehend auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat der Europäischen Union verbietet, einen Asylantrag mit der Begründung als unzulässig abzulehnen, dass dem Antragsteller bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt wurde, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat erwarten, ihn der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung aussetzen würden (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. (Ibrahim u.a.) -, NVwZ 2019, 785, Rn. 81 ff., sowie Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. (Hamed u.a.) -, InfAuslR 2020, 62, Rn. 43).

In einem solchen Fall hat das Bundesamt ein neues Asylverfahren durchzuführen (vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. (Hamed u.a.) -, InfAuslR 2020, 62, Rn. 42).

§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist entsprechend unionsrechtskonform einschränkend auszulegen (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. April 2020 - 1 C 4.19 -, NVwZ 2020, 1839, Rn. 36, und vom 17. Juni 2020 - 1 C 35.19 -, Asylmagazin 2020, 316, Rn. 23).

Diesen Anforderungen ist das Bundesamt nachgekommen, indem es nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 25. August 2020 mit dem angefochtenen Bescheid über die Asylanträge der Kläger in der Sache entschieden hat.

2. Bei seiner Entscheidung war das Bundesamt nicht an die Entscheidung der griechischen Behörden gebunden. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedstaat entfaltet keine Bindungswirkung für die Entscheidung des Bundesamts über einen in Deutschland gestellten Asylantrag (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts vom 30. September 2021 im Verfahren C-483/20, juris Rn. 64 und 70; VG Ansbach, Urteil vom 17. März 2020 - AN 17 K 18.50394 -, juris Rn. 21 ff.; VG Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 7. Juli 2020 - A 9 K 4137/19 -, juris Rn. 59, und Urteil vom 6. August 2020 - A 4 K 1897/20 -, juris Rn. 45; VG Aachen, Urteil vom 9. Juni 2021 - 1 K 1646/20.A -, juris Rn. 24; VG Düsseldorf, Urteile vom 4. August 2021 - 16 K 1148/21.A -, juris Rn. 39, und vom 9. August 2021 - 29 K 1915/19.A -, juris Rn. 79; VG Göttingen, Urteil vom 18. August 2021 - 2 A 74/21 -, juris Rn. 30; VG Cottbus, Urteil vom 18. August 2021 - 5 K 243/21.A -, juris Rn. 29; Dörig, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Auflage 2016, Art. 1 RL 2011/95/EU, Rn. 2; Funke, in: Enzyklopädie Europarecht, Band 10: Europäischer Freizügigkeitsraum - Unionsbürgerschaft und Migrationsrecht, § 16 Rn. 53; a.A. Becker, Asylmagazin 2020, 299, 301 f.; zweifelnd Pfersich, ZAR 2021, 387, 387; offen gelassen von Berlit, jurisPR-BVerwG 23/2020 Anm. 1 unter C; Bülow/Schiebel, ZAR 2020, 72, 74).

Für eine solche Bindung besteht keine rechtliche Grundlage. Aus dem nationalen Recht folgt eine solche Bindung nicht (a.). Dies steht sowohl mit Völkerrecht (b.) als auch mit Unionsrecht (c.) in Einklang. Deshalb durfte das Bundesamt die (erneuten) Asylanträge der Kläger (erneut) inhaltlich prüfen. § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG steht dem nicht entgegen (a.A. VG Saarlouis, Urteil vom 2. November 2020 - 3 K 699/20 -, juris Rn. 16 f.).

Zwar hat nach dieser Norm das Bundesamt kein erneutes Asylverfahren durchzuführen, wenn eine Person - wie hier - bereits außerhalb des Bundesgebiets als Flüchtling anerkannt ist. Jedoch ist hier von der Anwendung dieser Vorschrift abzusehen, weil ihre Anwendung im vorliegenden Fall nicht mit Unionsrecht in Einklang stünde. Auf die Ausführungen unter 1. wird Bezug genommen.

a. Das nationale Recht kennt keine Bindung an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedstaat. Die von entsprechenden Entscheidungen anderer Staaten ausgehenden Rechtswirkungen sind in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG abschließend geregelt. Danach schließt die für einen bestimmten Staat ausgesprochene ausländische Anerkennung als Flüchtling die Abschiebung in diesen Staat auch für Deutschland aus. Durch diese nationale Regelung hat der deutsche Gesetzgeber den Anerkennungsentscheidungen anderer Staaten in begrenztem Umfang Rechtswirkungen auch im eigenen Land beigemessen und eine auf den Abschiebungsschutz begrenzte Bindungswirkung der ausländischen Flüchtlingsanerkennung angeordnet. [...]

b. Aus dem Völkerrecht, insbesondere aus der Genfer Flüchtlingskonvention, ergibt sich keine Bindung an eine in einem anderen Mitgliedstaat erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Die Genfer Flüchtlingskonvention legt zwar einheitliche Kriterien für die Qualifizierung als Flüchtling fest, sieht aber keine völkerrechtliche Bindung eines Vertragsstaats an die Anerkennungsentscheidung eines anderen Staats vor (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. November 1979 - 1 BvR 654/79 -, BVerfGE 52, 391 (juris Rn. 22 ff.); BVerwG, Urteile vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 -, BVerwGE 150, 29, Rn. 29, und vom 30. März 2021 - 1 C 41.20 -, NVwZ 2022, 66, Rn. 32).

c. Eine Bindung an eine in einem anderen Mitgliedstaat erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich auch nicht aus dem Unionsrecht. Eine solche kann weder dem Primär- noch dem Sekundärrecht oder der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union entnommen werden.

Das Primärrecht der Europäischen Union enthält keine Bestimmung, die eine Bindung an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedstaat vorsieht. Es ermächtigt zwar nach Art. 78 Abs. 2 lit. a) und b) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2016, C 202, S. 1, im Folgenden: AEUV) zu Gesetzgebungsmaßnahmen, die einen in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus und einen einheitlichen subsidiären Schutzstatus für Drittstaatsangehörige vorsehen. Das maßgebliche Sekundärrecht enthält jedoch derzeit keine Regelungen, die einen solchen einheitlichen Status umsetzen; weder die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337, S. 9, sog. Qualifikationsrichtlinie, im Folgenden: RL 2011/95/EU) noch die Richtlinie 2013/32/EU sehen eine in der ganzen Union gültige Statusentscheidung vor. [...]

Eine solche Bindung kann auch nicht aus anderen Regelungen der Richtlinie 2013/32/EU abgeleitet werden. Zwar hat der Unzulässigkeitsgrund des Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU jedenfalls nach der ganz h.M., die diese Norm auch auf Fälle der Stellung eines weiteren Asylantrags in einem anderen Mitgliedstaat (vgl. § 71a Abs. 1 AsylG) anwendet (- vgl. Schlussanträge des Generalanwalts vom 18. März 2021 im Verfahren C-8/20, juris Rn. 49 bis 86; Sächsisches OVG, Beschluss vom 27. Juli 2020 - 5 A 638/19.A -, juris Rn. 12 ("acte clair"); OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Oktober 2020 - OVG 6 N 89/20 -, juris Rn. 24 ("acte clair"); OVG Bremen, Urteil vom 3. November 2020 - 1 LB 28/20 -, juris Rn. 45 ff. ("acte clair"); VG Berlin, Beschluss vom 17. Juli 2015 - 33 L 164/15.A -, juris Rn. 10 ff.; VG Hamburg, Beschluss vom 14. Juli 2016 - 1 AE 2790/16 -, juris Rn. 11 ff.; VG Karlsruhe, Urteil vom 13. März 2019 - A 1 K 3235/16 -, juris Rn. 26; VG Minden, Urteil vom 9. Dezember 2019 - 10 K 995/18 -, juris Rn. 34 f.; Funke-Kaiser, in: Funke-Kaiser/Vormeier, GKAsylG, § 71a Rn. 14 (Stand: Dezember 2019); Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 71a AsylG Rn. 6 (Stand: August 2020); a.A. Europäische Kommission, zitiert nach EuGH, Urteil vom 20. Mai 2021 - C-8/20 (L.R.) -, ZAR 2021, 254, Rn. 29; Marx, AsylG, 10. Auflage 2019, § 71a Rn. 4 unter Bezugnahme auf Art. 40 Abs. 1 RL 2013/32/EU; offen gelassen: BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, BVerwGE 157, 18 Rn. 26 -), eine faktische Bindung an ablehnende Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten zur Folge, wenn nach Ablehnung eines Asylantrags in einem Mitgliedstaat ein weiterer Asylantrag in einem anderen Mitgliedstaat gestellt wird und keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zutage treten oder vorgebracht werden. Jedoch ist Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU - ebenso wie die übrigen Unzulässigkeitsgründe des Art. 33 Abs. 2 RL 2013/32/EU - für die Mitgliedstaaten nicht bindend, sondern fakultativ; dies ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 33 Abs. 1 ("müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen") und Abs. 2 ("können … als unzulässig betrachten") RL 2013/32/EU sowie Erwägungsgrund 43 ("sollten … nicht verpflichtet sein") (vgl. EuGH, Urteil vom 22. Februar 2022 - C-483/20 - juris Rn. 31 ff. und 44 f. ("die durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU eingeräumte Befugnis"); Schlussanträge des Generalanwalts vom 30. September 2021 im Verfahren C-483/20, juris Rn. 68 ("fakultativen Charakter")).

Kann Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU schon in seinem Anwendungsbereich keine die Mitgliedstaaten verpflichtende Bindungswirkung an von einem anderen Mitgliedstaat getroffene Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entnommen werden, scheidet diese Regelung auch als Grundlage für die Ableitung einer Bindungswirkung im vorliegenden Fall aus. [...]

dd. Eine Bindungswirkung kann auch nicht aus dem im Unionsrecht geltenden Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens hergeleitet werden (a.A. Becker, Asylmagazin 2020, 299, 301 f.).

Das gegenseitige Vertrauen richtet sich darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. 2012, C 326, S. 391) anerkannten Grundrechte bieten. Im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gilt danach die Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechte-Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht (vgl. etwa EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 und C-493/10 -, EuGRZ 2012, 24, Rn. 78 und 80, sowie vom 19. März 2019 - C-297/17 -, NVwZ 2019, 785, Rn. 83 ff.).

Diesem Grundsatz eines gegenseitigen Vertrauens in die Einhaltung der verfahrensmäßigen Garantien und Grundrechte im Asylverfahren lässt sich eine tatbestandliche Bindungswirkung an Asylentscheidungen anderer Mitgliedstaaten schon im Ansatz nicht entnehmen. Im Übrigen würde eine entsprechende Herleitung einer Bindungswirkung der bewussten Entscheidung des Unionsgesetzgebers widersprechen, zum jetzigen Zeitpunkt (noch) keinen einheitlichen Asyl- und subsidiären Schutzstatus für Drittstaatsangehörige einzuführen. Aus den Erwägungsgründen 6 der Verordnung 604/2013 und 4 der Richtlinie 2013/32/EU ist ersichtlich, dass ein solcher einheitlicher Status noch nicht zum jetzigen Zeitpunkt, sondern erst auf längere Sicht umgesetzt werden soll. [...]

ff. Bindet die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedstaat nach den vorstehenden Ausführungen das Bundesamt nicht, ist es nach der vorstehend unter bb) dargelegten Konzeption des Unionsrechts verpflichtet, den Asylantrag erneut in der Sache zu prüfen (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts vom 30. September 2021 im Verfahren C-483/20, juris Rn. 64; OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, Asylmagazin 2021, 92 (juris Rn. 101)).

Dabei ist eine inhaltlich abweichende Entscheidung des Bundesamts nicht ausgeschlossen (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts vom 30. September 2021 im Verfahren C-483/20, juris Rn. 70; BVerwG, Beschluss vom 2. August 2017 - 1 C 37.16 -, juris Rn. 25; ähnlich Hessischer VGH, Urteil vom 4. November 2016 - 3 A 1292/16.A -, NVwZ 2017, 570, Leitsatz 4 "bei positiver Bescheidung"). [...]