VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Urteil vom 20.04.2022 - 5 A 394/20 - asyl.net: M30611
https://www.asyl.net/rsdb/m30611
Leitsatz:

Anspruch auf Selbsteintritt im Dublin-Verfahren wegen schützenswerter familiärer Beziehung des Vaters zu seinem Kind:

1. Aus einer gelebten familiären Lebensgemeinschaft und dem grundgesetzlichen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG kann sich gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO eine Pflicht zum Selbsteintritt ergeben.

2. Es ist dabei im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung gegenüber einem Kind ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. Maßgeblich ist dabei auf die Sicht des Kindes abzustellen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Eltern-Kind-Verhältnis, Vaterschaftsanerkennung, Vaterschaft, Schutz von Ehe und Familie, Selbsteintritt, Schweden,
Normen: VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, BGB § 1684 Abs. 1,
Auszüge:

[...]
Ungeachtet der Frage, ob Schweden für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zu einem früheren Zeitpunkt zuständig war, ist die Beklagte jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung verpflichtet, ihr Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO auszuüben und den Asylantrag des Klägers in eigener Zuständigkeit zu prüfen. Das in Art. 17 Dublin III-VO verankerte Selbsteintrittsrecht der Bundesrepublik Deutschland i. V. m. Art. 6 GG hat sich zu einer Selbsteintrittspflicht zur Wahrung der Familieneinheit gewandelt. [...]

Der Pflicht des Staates, Ehe und Familie zu schützen, entspricht ein Anspruch des Trägers der Grundrechte aus Art 6 Abs. 1 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte die bestehenden ehelichen und familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen in einer Weise berücksichtigen, die der großen Bedeutung entspricht, welche das Grundgesetz dem Schutz von Ehe und Familie erkennbar beimisst (BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 -, juris). [...]

Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist deshalb maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen.
Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. [...]

Den dargestellten Maßstäben folgend ist das Gericht überzeugt, dass zwischen dem Kläger und seiner Tochter eine schützenswerte familiäre Beziehung besteht. Neben der Anerkennung der Vaterschaft und der Erklärung der gemeinsamen elterlichen Sorge hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass er mit seiner sechs Monate alten Tochter in familiärer Gemeinschaft lebt. [...]