VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 07.04.2022 - 14 K 546.17 A - asyl.net: M30626
https://www.asyl.net/rsdb/m30626
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus Pakistan:

1. Dass homosexuelle Handlungen in Pakistan unter Strafe stehen, stellt für sich genommen noch keine Verfolgungshandlung dar. Es begründet aber die Feststellung, dass die betroffenen Personen zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gehören.

2. Eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung wegen Homosexualität ist in Pakistan beachtlich wahrscheinlich. Es bestehen Anhaltspunkte für Verfolgungsmaßnahmen seitens des pakistanischen Staates, und es sind vielfältige und häufige Übergriffe nichtstaatlicher Akteure belegt. Gegen diese Übergriffe steht in Pakistan kein wirksamer Schutz zur Verfügung.

(Leitsätze der Redaktion; sich anschließend an: VG Berlin, Urteil vom 17.08.2020 - 6 K 686.17 A - asyl.net: M28934)

Schlagwörter: Pakistan, homosexuell, nichtstaatliche Verfolgung, interner Schutz, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3,
Auszüge:

[...]

b) Aufgrund seiner Homosexualität gehört der Kläger in Pakistan zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Auch wenn der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher zwar noch keine Verfolgungshandlung darstellt, erlaubt das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - verb. Rs. C-199/12 bis C-201/12 -, juris Rn. 49).

Solche Bestimmungen sind in Pakistan seit der Kolonialzeit in Kraft. Nach Art. 377 des pakistanischen Strafgesetzbuchs ist homosexueller Geschlechtsverkehr zwischen Männern als "gewollter unnatürlicher Geschlechtsverkehr" strafbar, wobei nach Art. 511 des pakistanischen Strafgesetzbuches auch bereits der Versuch strafbar ist. [...]

c) Entgegen der Ansicht der Beklagten ist eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung des Klägers wegen seiner Sexualität in Pakistan beachtlich wahrscheinlich. Unter Berücksichtigung der Erkenntnislage zu Pakistan (vgl. zum Folgenden VG Berlin, Urteil vom 17. August 2020 - VG 6 K 686.17 A -, juris Rn. 29 ff.) ist die Furcht des Klägers vor Verfolgung begründet.

aa) Die Erkenntnismittel enthalten bereits Anhaltspunkte für Verfolgungsmaßnahmen seitens des pakistanischen Staates. Pakistan stellt homosexuelle Handlungen, wie dargelegt, unter Strafe. Dies ist nach der genannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für eine Verfolgung nicht hinreichend. Die Strafandrohung für homosexuelle Handlungen in Pakistan wird indes in Einzelfällen durchaus vollzogen. [...]

Die Kriminalisierung von Homosexualität führt über die Strafverfolgung hinaus auch zu weiteren Übergriffen durch den Staat. In den Erkenntnismitteln wird berichtet, Polizeibeamte benutzten mitunter die geltenden Strafnormen, um Homosexuelle zu belästigen, zu erpressen, einzuschüchtern, festzunehmen oder sexuell zu misshandeln (vgl. Amnesty International, a.a.O., S. 2; Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13; Department of Foreign Affairs and Trade [DFAT]; Country Information Report - Pakistan, 20. Februar 2019, S. 53; IRB, a.a.O. [13. Januar 2014], S. 3; Landinfo, a.a.O., S. 9; SFH, a.a.O., S . 2; UK Horne Office, a.a.O., S. 15 ff.).

bb) Die Erkenntnismittel belegen jedenfalls vielfältige und häufige Übergriffe nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG gegen Personen, deren Homosexualität bekannt wird. [...]

Sobald ihre sexuelle Orientierung bekannt wird, erfahren viele Homosexuelle erhebliche Diskriminierung in nahezu allen Lebensbereichen, die zum Verlust des Arbeitsplatzes, zur Obdachlosigkeit und damit zur Verelendung führen kann. Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist für sexuelle Minderheiten aufgrund der sozialen Stigmatisierung eingeschränkt. [...]

Schwule Männer sind wegen ihrer sexuellen Orientierung auch Gewalt ausgesetzt, insbesondere in der eigenen Familie, wobei es selbst zu Tötungen durch die eigenen Angehörigen kommt. [...]

cc) In Pakistan steht gegen diese Übergriffe kein wirksamer Schutz zur Verfügung (vgl. § 3c Nr. 3 Halbsatz 2 AsylG). Die gesellschaftliche Diskriminierung und Gewalt gegen Homosexuelle wird durch das Verhalten vieler staatlicher Akteure sogar verstärkt, da etwa Polizeibeamte, wie dargelegt, das geltende Strafrecht für Übergriffe gegen Homosexuelle missbrauchen (vgl. Amnesty International, a.a.O., S. 2; Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13). In zahlreichen Fällen körperlicher Übergriffe und Todesdrohungen durch Familienangehörige erstatteten die homosexuellen Opfer keine Anzeige bei der Polizei aus Angst, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verhaftet zu werden (vgl. IRB, a.a.O. [13. Januar 2014], S. 7 f.; IRB, a.a.O. [9. Januar 2015], S. 3). [...]