VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 29.04.2022 - 11 K 807 /22.A - asyl.net: M30627
https://www.asyl.net/rsdb/m30627
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für eine westlich geprägte Jugendliche hinsichtlich Pakistans:

Ohne familiäre Unterstützung läuft eine westlich sozialisiere und weltlichen Werten zugewandte Jugendliche tatsächlich Gefahr, einer Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein, weil es für sie in der ihr fremden, zunehmend islamistisch geprägten pakistanischen Gesellschaft keine Möglichkeit gibt, ihren existenziellen Lebensunterhalt zu sichern.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, Frauen, westlicher Lebensstil, Sicherung des Lebensunterhalts, Zwangsehe, arrangierte Ehe, minderjährig,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Dies ist im vorliegenden außergewöhnlichen Einzelfall in Bezug auf die Klägerin insbesondere im Hinblick auf die besondere Familiensituation und im Hinblick darauf, dass sie sich seit ihrem zwölften Lebensjahr in westlichen Demokratien aufgehalten hat und in diesem für die Entwicklung so prägendem Lebensabschnitt sozialisiert wurde und sie sich bemerkenswert entwickelt hat, ausnahmsweise anzunehmen. Nach der Überzeugung des Einzelrichters aufgrund seines persönlichen Eindrucks von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung führt die Biografie der Klägerin dazu, dass es sich bei ihr um eine im besonderen Maße bescheidene, aber auch selbstbewusste, willensstarke, gerechtigkeitsbewusste westlich geprägte junge Frau handelt. Sie hat es mit 17 Jahren geschafft, sich in Deutschland voll zu integrieren, akzentfrei Deutsch zu sprechen, einen Schulabschluss zu machen und eine Ausbildung aufzunehmen. Dies gelang ihr trotz der der Ausreise aus Pakistan vorangehenden, für eine kindliche Entwicklung sicher nicht förderlichen konfliktbeladenen Jahren in Pakistan und Dubai, trotz zwischenzeitlichen Aufenthalte in Polen und Frankreich und trotz der herausfordernden Umgebung, der Personen, die sich im Asylverfahren befinden, ausgesetzt sind. Weder die immer wieder neuen Umgebungen noch die familiären Belastungen, welche das Verlassen der Heimat, die schwere Krankheit des älteren Bruders mit regelmäßigen schweren epileptischen Anfällen, die psychische Belastung der Mutter und der Konflikt mit dem Vater mit sich bringen, haben dazu geführt, dass die Klägerin den von ihr eingeschlagenen Weg verlassen hätte. Sie hat mit dem Schulabschluss und dem Ausbildungsplatz gesellschaftlich anerkannte Erfolge erreicht. In Deutschland ist sie sozial integriert. Dies hat sie als immer noch jugendliche Person in ihrem eigenständigen, von den Eltern und der Herkunft unabhängigen Weg bestärkt.

Nach Einschätzung des Einzelrichters ist es beachtlich wahrscheinlich, dass ihr es daher in ihrer momentanen Lebenssituation auch mittelfristig nicht gelingen wird, diesen nunmehr in ihr fest verankerten, mit inneren Überzeugungen verbundenen Weg zu verlassen, sich wieder in die pakistanische Gesellschaft zu integrieren und insbesondere sich der dortigen Frauenrolle und den religiösen Vorgaben zu unterwerfen, weil sie dafür mit vielen für ihre Identität prägenden Überzeugungen brechen müsste, was ihr unabhängig davon, ob dies überhaupt von ihr erwartet werden könnte, als 17-jährige Frau nicht gelingen wird. Dies wird nach der Überzeugung des Einzelrichters in absehbarer Zeit auch aufgrund des finanziellen Drucks, der auf der mit dem schwer kranken Bruder der Klägerin zurückkehrenden Familie lasten wird, und hinsichtlich dessen der Vater der Klägerin keine Entlastung mehr verspricht trotz der Unterstützung der Großeltern, zu solchen Zerwürfnissen führen, dass die Klägerin keine familiäre Unterstützung mehr erfahren wird. Zur Eskalation beitragen würde es dabei, dass eine naheliegende Linderung des finanziellen Druckes der Familie in dieser Situation in der pakistanischen Gesellschaft eine arrangierte Ehe der Klägerin wäre, welcher diese sich nicht wird beugen können, was von dem sie in Pakistan erwartenden Umfeld nicht akzeptiert werden könnte. Damit liefe sie ohne familiäre Unterstützung tatsächlich Gefahr, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein, weil es sonst für sie als noch minderjährige, westlich sozialisierte und weltlichen Werten zugewandte Frau in der ihr fremden, zunehmend islamistisch geprägten pakistanischen Gesellschaft keine Möglichkeit bestehen, ihren existenziellen Lebensunterhalt zu sichern. [...]