VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 29.03.2022 - 1 K 774/19.A - asyl.net: M30636
https://www.asyl.net/rsdb/m30636
Leitsatz:

Familienschutz auch für Eheleute mit unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten:

"1. Familienschutz gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 AsylG ist auch dann zu gewähren, wenn der Ehepartner einer als international schutzberechtigt anerkannten Person eine andere Staatsangehörigkeit besitzt als diese.

2. Ob die eheliche Lebensgemeinschaft im Aufnahmestaat fortgeführt wird, ist bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 26 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 AsylG unerheblich.

3. Für die Beurteilung der Frage, ob ein Asylantrag "unverzüglich" i.S.d. § 26 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 AsylG gestellt wurde, ist nicht auf den Zeitpunkt der förmlichen Stellung des Asylantrags beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sondern auf den Zeitpunkt der ersten Äußerung eines Asylgesuchs abzustellen."

(Amtliche Leitsätze; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 09.11.2021 - C-91/20 - LW gg. Deutschland (Asylmagazin 3/2022, S. 84 ff.) - asyl.net: M30149)

Schlagwörter: Familienschutz, Staatsangehörigkeit, Unverzüglichkeit, Beurteilungszeitpunkt, Unionsrecht, Anerkennungsrichtlinie, Familienasyl, Familienangehörige, Ehepartner, eheliche Lebensgemeinschaft,
Normen: AsylG § 26 Abs. 2, AsylG § 26 Abs. 5 S. 1, RL 2011/95/EU Art. 23, RL 2011/95/EU Art. 3,
Auszüge:

[...]

2. Der Anspruch der Klägerin ergibt sich aber aus § 26 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 AsylG. Diese Regelungen treffen im Einklang mit Art. 3 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337, S.9; sog. Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden: RL 2011/95/EU) eine günstigere nationale Regelung zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder als Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat.[...]

a. Aufgrund der glaubhaften Angaben der Klägerin und der von ihr bei der Ausländerbehörde eingereichten Unterlagen (Bl. 20 bis 28 Beiakte 2) steht zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) fest, dass die Klägerin und Herr ... am ... geheiratet haben und noch miteinander verheiratet sind und dass die Klägerin und ihr Ehemann von 2006 bis 2012 in Syrien, und damit in dem Staat gelebt haben, in dem Letzterer dem Bescheid des Bundesamts vom 11. April 2016 zufolge verfolgt wurde. [...]

b. Der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft steht nicht entgegen, dass die Klägerin anders als ihr Ehemann, von dem sie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ableitet, nicht die syrische, sondern die libanesische Staatsangehörigkeit besitzt. § 26 AsylG ist dahin auszulegen, dass der Familienflüchtlingsschutz auch dann zu gewähren ist, wenn der Familienangehörige die Staatsangehörigkeit eines Nichtverfolgerstaats besitzt (vgl. BVerwG, Vorlagebeschluss vom 18. Dezember 2019 - 1 C 2.19 -, EzAR-NF 67 Nr. 12, Rn. 14).

Dies verstößt nicht gegen Unionsrecht und gilt unabhängig davon, ob es der Klägerin zumutbar wäre, in den Libanon zurückzukehren. [...]

c. Dass die eheliche Lebensgemeinschaft nach den auch insoweit glaubhaften Angaben der Klägerin von Mitte September 2017 bis August oder September 2018 unterbrochen war, steht dem Anspruch der Klägerin ebenfalls nicht entgegen.

aa. Ob die eheliche Lebensgemeinschaft im Aufnahmestaat fortgeführt wird, ist bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 26 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 AsylG rechtlich unerheblich. [...]

bb. Sollte es entgegen der vorstehend vertretenen Auffassung auf den Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft im Aufnahmestaat ankommen, wären auch insoweit die Verhältnisse zum Zeitpunkt der behördlichen bzw. gerichtlichen Entscheidung maßgeblich. [...]