OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 11.05.2022 - 10 LA 46/22 - asyl.net: M30641
https://www.asyl.net/rsdb/m30641
Leitsatz:

Zulassung der Berufung für vulnerable Personen im Dublin-Verfahren hinsichtlich Italiens:

Die Frage, ob vulnerablen Personen bei einer Rückkehr nach Italien ohne eine individuelle Garantieerklärung eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC droht, ist grundsätzlich klärungsbedürftig.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Berufungszulassung, Italien, Dublinverfahren, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Zusicherung, individuelle Garantieerklärung, besonders schutzbedürftig, vulnerable Person,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1
Auszüge:

[...]

6 Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat Erfolg. Die Berufung ist zuzulassen, weil die Beklagte dargelegt hat, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. [...]

14-19 Sie hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,

"ob Antragstellenden, bei denen Italien gem. § 29 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, bei Überstellung nach Italien eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK droht, welche die Beklagte verpflichten, ein Asylverfahren in eigener Zuständigkeit durchzuführen?

bzw. ob die durch Italien in Reaktion auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache "Tarakhel" versandten Rundschreiben an die Dublin-Einheiten der Mitgliedstaaten (sog. "circular letters", zum Wortlaut einer derartigen Erklärung siehe im Übrigen EGMR vom 28. Juni 2016 - Nr. 15636/16, N.A./Dänemark - HUDOC Rn. 11 bzw. Rundbrief vom 8.1.2019) bzw. das Rundschreiben vom 08.02.2021 diese Mindestanforderungen erfüllen und so für vulnerable Personen, insbesondere Familien mit Kindern, der nötige Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Anlagen nach Rückkehr in den Mitgliedstaat garantiert ist.

Für den Fall das diese für nicht ausreichend befunden wird: welche Mindestanforderungen eine solche Zusicherung erfüllen muss."

20 Die Beklagte hat u.a. unter Hinweis auf die neuere Rechtsprechung des EGMR, die stark gesunkenen Zahlen der neu ankommenden Asylbewerber in Italien und die damit verbundene schwächere Auslastung der vorhandenen Unterkünfte, die Verbesserung der Aufnahmebedingungen u.a. auf Grund der geänderten Gesetzeslage durch den Erlass des Gesetzdekrets 130/2020, wodurch das sog. "Salvini Dekret" reformiert wurde, sowie die unterschiedliche Beantwortung der aufgeworfenen Tatsachenfrage in den verschiedenen niedersächsischen Verwaltungsgerichten in zureichendem Maße die Klärungsbedürftigkeit der ersten aufgeworfenen Frage dargelegt (die zweite und die dritte Frage sind in der Rechtsprechung des Senats bereits geklärt, siehe hierzu den Senatsbeschluss vom 10.5.2022 – 10 LA 49/22 – m.w.N.). Die auf Grund der Begründung des Zulassungsantrags sowie der Zusammenschau mit den weiteren aufgeworfenen Fragen und angesichts des Umstands, dass das Verwaltungsgericht für nicht vulnerable Personen keine Abschiebungsverbote angenommen hat, dahin zu verstehende Frage, ob vulnerablen Antragstellern, wie Familien mit Kindern, bei denen Italien gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist, bei Überstellung nach Italien ohne Vorliegen einer individuellen Garantieerklärung eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC droht, so dass die Beklagte verpflichtet wäre, ein Asylverfahren in eigener Zuständigkeit durchzuführen, ist in der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts unter Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel noch nicht geklärt. Die Entscheidung des Senats (Beschluss vom 19.12.2019 - 10 LA 64/19 -, juris Rn. 19 und 21) in der dieser angenommen hat, dass es bei einer Rückkehr von als schutzberechtigt anerkannten Familien mit  minderjährigen Kindern nach Italien einer konkret-individuellen Zusicherung der Gewährleistung ihrer aus Art. 4 GRC folgenden Rechte durch die dortigen Behörden bedürfe, beruht auf der im Entscheidungszeitpunkt feststellbaren Sachlage u.a. im Hinblick auf das zum damaligen Zeitpunkt geltende "Salvini Dekret" vom 1. Dezember 2018. [...]