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VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 11.05.2022 - 13 K 900/19.A - asyl.net: M30650
https://www.asyl.net/rsdb/m30650
Leitsatz:

Kein Widerruf eines Abschiebungsverbots für jungen, gesunden Mann aus Afghanistan:

1. Angesichts der aktuellen Lage in Afghanistan droht jungen, erwachsenen, gesunden, alleinstehenden und nicht zum Unterhalt verpflichteten Männer regelhaft Verelendung und damit eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), wenn keine begünstigenden Umstände gegeben sind.

2. Der Kläger lebt seit zehn Jahren in Deutschland, so dass er nicht in der Lage sein wird, den islamischen Glauben so zu leben, wie es die Taliban erwarten. Daher besteht die Gefahr, dass er in das Visier der Taliban geraten wird.

(Leitsätze der Redaktion; sich anschließend an: VG Meiningen, Gerichtsbescheid vom 09.11.2021 - 8 K 1132/19 Me - asyl.net: M30239)

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, Widerruf, Obdachlosigkeit, alleinstehende Männer, Taliban, Existenzgrundlage, Existenzminimum, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Verwestlichung, westlicher Lebensstil,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AufenthG § 60 Abs. 7, AsylG § 73c Abs. 1, AsylG § 73c Abs. 2
Auszüge:

[...]

Hier muss der Kläger aufgrund der Situation in Afghanistan befürchten, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung bei einer Rückkehr nach Afghanistan ausgesetzt zu werden. Damit macht er zwar nicht geltend, dass ihm näher spezifizierte, konkrete Maßnahmen drohen würden, sondern er beruft sich auf die allgemeine Lage. Die zu erwartende schlechte Versorgungs- und Sicherheitslage und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen vorliegend jedoch eine Intensität auf, bei der auch ohne ernsthaft individuelle Bedrohung des Lebens im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.

Nach der aktuellen Erkenntnislage ist derzeit nicht mehr an dem Grundsatz festzuhalten, dass jeder alleinstehende, gesunde junge Mann im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, dort wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen. Aus den seit März 2020 weiter erheblich verschlechterten humanitären Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben sich auch für junge, alleinstehende und arbeitsfähige Rückkehrer höhere Anforderungen an die individuelle Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit, um ihre elementarsten Bedürfnisse an Nahrung und Obdach zu befriedigen. [...]

Seit dieser Einschätzung hat sich die Lage in Afghanistan noch weiter verschlechtert. Die Regierung ist geflohen. Die Taliban haben die Macht übernommen. Die ausländischen Truppen und viele ihrer Helfer haben Afghanistan verlassen. Die internationalen Hilfsprogramme sind zusammengebrochen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6. April 2022 – OVG 12 N 137/21 -). Angesichts der aktuellen Lage in Afghanistan liegen im Hinblick auf junge, erwachsene, gesunde, alleinstehende und nicht zum Unterhalt verpflichtete Männer regelhaft die sehr hohen Voraussetzungen des Art. 3 EMRK im Hinblick auf eine drohende Verelendung vor, wenn keine begünstigenden Umstände gegeben sind (vgl. auch VG Greifswald, Urteil vom 10. März 2022 – 3 A 2070/20 HGW –, juris). [...]

Zudem lebt er seit 10 Jahren in Deutschland. Er wird nicht in der Lage sein, den islamischen Glauben so zu leben, wie es die Taliban erwarten. Bereits vor der Machtübernahme der Taliban wurden Rückkehrende aus Europa von der afghanischen Gesellschaft misstrauisch behandelt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan vom 15. Juli 2021 S. 24). Es ist nicht zu erwarten, dass sich diese Situation verbessert hat. Es besteht die Gefahr, dass er in das Visier der Taliban geraten wird. [...]