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VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 23.11.2021 - RN 13 K 21.30571 - asyl.net: M30660
https://www.asyl.net/rsdb/m30660
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für yezidischen Person aus Shingal/Ninewa im Irak:

1. Im Bezirk Shingal/Ninewa (Irak) droht yezidischen Personen keine Gruppenverfolgung und herrscht auch kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, sodass der Kläger weder Anspruch auf die Anerkennung als Flüchtling gemäß § 3 Abs. 1 AsylG noch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG hat.

2. Aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise im Irak, die sich durch die Covid-Pandemie noch zugespitzt hat, wäre der Kläger aber wahrscheinlich nicht in der Lage, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu verdienen, sodass entgegen Art. 3 EMRK Verelendung droht und gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG das Bestehen eines Abschiebungsverbots festzustellen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Yeziden, Gruppenverfolgung, Abschiebungsverbot, Jesiden, Ninewa, Nineveh, Nordirak, subsidiärer Schutz, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, ernsthafter Schaden, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Existenzminimum, Existenzgrundlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
Auszüge:

[...]

I. Der Kläger hat insoweit einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. [...]

Nach der Erkenntnislage des Gerichts besteht im gesamten Irak eine angespannte humanitäre Situation. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes zur Lage im gesamten Land kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wiederhergestellt werden. [...]

Hinzu treten nunmehr die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie. [...]

Für den Fall der Rückkehr des Klägers wäre dieser aller Wahrscheinlichkeit mangels verfügbarem und bezahlbarem Wohnraums gezwungen, sich entweder bei seiner Familie in Zelten im Raum Shingal im inoffiziellen Flüchtlingslager ... oder erneut in einem leerstehenden Haus … in der Grenzregion Dohuk/Ninewa niederzulassen, in welchem sein Bruder immer noch lebt. Das Gericht ist überzeugt, dass die Lage in den Flüchtlingslagern schwierig ist. Den Erkenntnismitteln kann zwar nicht entnommen werden, dass es in den Flüchtlingslagern in der Region Kurdistan-Irak generell an dem für ein menschenwürdiges Leben Erforderlichem mangelt. [...]

Das Gericht ist allerdings unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren sowie des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm im Falle einer Rückkehr gelingen würde, seinen Lebensunterhalt dauerhaft so weit zu sichern, dass ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger dort mit Arbeitstätigkeiten das Existenzminimum für sich und seine Familie soweit sichern kann, dass es ihm gelingen könnte, das Flüchtlingslager in Shingal in absehbarer Zeit zu verlassen oder die Bauruine ... zu einem zumutbaren Wohnhaus auszubauen.

Es ist im vorliegenden Einzelfall zu berücksichtigen, dass der Kläger, nachdem er seine Tätigkeit als Polizist nach 2014 nicht mehr ausüben konnte, keiner geregelten Arbeitstätigkeit mehr nachgegangen ist. Selbst wenn man unterstellt, dass er und sein zwischenzeitlich volljähriger Sohn Tätigkeiten im Niedriglohnsektor als Tagelöhner finden sollten, sind dies allenfalls Gelegenheitsarbeiten, mit welchen nicht der Lebensunterhalt für eine siebenköpfige Familie sichergestellt werden kann. [...]

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 Abs. 1 und 4 AsylG. [...]

b) Auch die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel lassen im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Verfolgung des Klägers allein wegen der Zugehörigkeit zu der Glaubensgemeinschaft der Jesiden in Anknüpfung an ein Merkmal i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bei einer Rückkehr in den Irak derzeit nicht als beachtlich wahrscheinlich erscheinen. [...]

In Ansehung der hierzu ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung der jüngeren Zeit kann seit der Niederschlagung des IS nicht mehr davon ausgegangen werden, dass Jesiden [...] noch eine beachtliche (Gruppen-)Verfolgung aufgrund ihrer Religions- bzw. Volkszugehörigkeit droht. Gerade für den Distrikt Shingal führt das OVG Nordrhein-Westfalen im Urteil vom 10.05.2021 (Az. 9 A 570/20.A) wie folgt aus:

"Nach diesen Maßstäben ist der Senat unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Informationen zur aktuellen Lage im Irak zu der Überzeugung gelangt, dass eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Sindjar der Provinz Ninive derzeit nicht beachtlich wahrscheinlich ist. [...]

Des Weiteren ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die, für die Betrachtung maßgebliche Herkunftsregion einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) ausgesetzt wäre. [...]

Der Kläger stammt aus Shingal in der Provinz Ninewa. [...]

Nach Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel besteht in der Provinz Ninewa kein internationaler oder innerstaatlicher Konflikt. Dies folgt bereits daraus, dass der IS durch die irakischen Streitkräfte landesweit fast vollständig zurückgedrängt wurde. Soweit der IS noch Selbstmordattentate und andere Anschläge verübt hat, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden [...] und soweit die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten noch prekär ist, da diese durch so genannte IEDs (improvisierte Sprengsätze) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt sind [...], handelt es sich dabei um Einzelfälle, die jedenfalls kein solches Ausmaß erreichen, dass die Lage als innerstaatlicher Konflikt zu qualifizieren wäre (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 11.03.2021, 9 LB 129/19 – juris). [...]