VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 03.05.2022 - 21 K 3/22 A - asyl.net: M30664
https://www.asyl.net/rsdb/m30664
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für in Litauen aufenthaltsberechtigte staatenlose Person:

"1. Die Feststellung von Abschiebungsverboten für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union sowie für dort aufenthaltsberechtigte Staatenlose kommt grundsätzlich nicht in Betracht, weil eine – widerlegliche – Vermutung dafür besteht, dass sie in jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europä­ischen Menschenrechtskonvention behandelt werden. Diese vom Europäischen Gerichtshof bereits für Asylverfahren von Drittstaatsangehörigen im sogenannten Dublin-Verfahren entwickelte Vermutung ist auf Asylverfahren von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union sowie dort aufenthalts­berechtigte Staatenlose zu übertragen (hier nicht widerlegt; vgl. zu dieser Vermutung erstmalig das Urteil der Kammer vom 26. April 2022 - VG 21 K 9/22 A - juris).

2. In Litauen aufenthaltsberechtigte Staatenlose sind kranken- und sozialversichert. Lediglich illegale Staatenlose sind vom Sozialsystem ausgeschlossen und haben nur Anspruch auf medizinische Notversor­gung. Antiretrovirale Therapien stehen HIV-Kranken in Litauen ohne Zuzahlungspflicht zur Verfügung."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Litauen, Staatenlosigkeit, staatenlos, Diskriminierung, medizinische Versorgung, HIV/AIDS, Obdachlosigkeit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

15 Nach diesen Maßstäben drängt sich auf, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Litauen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre.

16 Nach Auffassung der Kammer - die seit Anfang 2022 für sämtliche beim Verwaltungsgericht Berlin anhängige und neu eingehende Asylklagen betreffend die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zuständig ist - kommt eine Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union sowie für dort aufenthaltsberechtigte Staatenlose, wie hier, grundsätzlich nicht in Betracht, weil eine - widerlegliche - Vermutung dafür besteht, dass sie in jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention behandelt werden (vgl. dazu erstmalig das Urteil der Kammer vom 26. April 2022 - VG 21 K 9/22 A - in dem Fall eines in Lettland aufenthaltsberechtigten Staatenlosen). Diese vom Europäischen Gerichtshof bereits für Asylverfahren von Drittstaatsangehörigen im sogenannten Dublin-Verfahren entwickelte Vermutung (1.) ist aus Sicht der Kammer auf Asylverfahren von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union sowie dort daueraufenthaltsberechtigte Staatenlose zu übertragen (2.). Die Vermutung ist hier nicht widerlegt (3.). [...]

20 Vor diesem Hintergrund besteht nach den beiden genannten für das gesamte Unionsrecht geltenden und prägenden Grundsätzen auch in anderen Asylverfahren als sogenannten Dublin-Verfahren die Vermutung, dass die Behandlung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union sowie dort aufenthaltsberechtigten Staatenlosen in diesem Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Es sind keine Gründe dafür ersichtlich, dass die vom Europäischen Gerichtshof für Asylverfahren von Drittstaatsangehörigen im sogenannten Dublin-Verfahren entwickelten Grundsätze bei Asylverfahren von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union sowie von dort daueraufenthaltsberechtigten Staatenlosen keine Anwendung finden sollte.

21 3. Diese Vermutung ist hier nicht widerlegt. [...]

25 a. Der Kläger hat schon keine Angaben gemacht, die als Nachweis dafür geeignet wären, dass in Litauen systemische, allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen beim Grund- und Menschenrechtsschutz im oben genannten Sinne vorliegen und er persönlich hiervon betroffen sein würde. Sein Einwand, ihm drohe bei einer Rückkehr nach Litauen Obdachlosigkeit, ist substanzlos geblieben. Zudem spricht gegen eine solche Gefahr die eigene Angabe des Klägers bei der Anhörung, er sei seinerzeit (problemlos) nachts in einem Obdachlosenheim untergekommen. Im Übrigen ist der Kläger erst 40 Jahre alt, trotz gesundheitlicher und psychischer Probleme grundsätzlich erwerbsfähig und hat dementsprechend in Litauen und Deutschland immer wieder gearbeitet. Ihm ist es zumutbar, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit, hilfsweise durch (Wieder-) Bezug von Sozialhilfe zu bestreiten. Der Kläger hat auch Zugang zum Sozialsystem. [...]

31 II. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Werden gesundheitliche Gründe geltend gemacht, wie hier, setzt dies nach Satz 3 der Vorschrift lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen voraus, die sich aufgrund der Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. [...]

32 Nach diesen Maßstäben drängt sich auf, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Litauen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. zu diesem Prognosemaßstab BVerwG, Urteil vom 7. September 2010 - 10 C 11.09 - juris Rn. 14) eine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes im oben genannten Sinne droht.

33 1. Nach Auffassung der Kammer folgt dies daraus, dass auch in Bezug auf die medizinische Versorgung eine – hier nicht widerlegte – Vermutung eingreift, dass Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union sowie dort daueraufenthaltsberechtigte Staatenlose in dem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention behandelt werden und ihnen eine ausreichende medizinische Versorgung gewährt wird, um die wesentliche Verschlechterung einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung abzuwenden. [...]

34 2. Die Vermutung ist hier nicht widerlegt.

35 a. Der Kläger hat schon keine substantiierten Angaben gemacht, die als Nachweis dafür geeignet wären, dass die medizinische Versorgungslage in Litauen systemische, allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen aufweist und er hiervon persönlich betroffen sein würde. [...]

36 b. Für schwerwiegenden Funktionsstörungen bei der medizinischen Versorgung in Litauen bestehen auch sonst keine Anhaltspunkte.

37 Im Gegenteil, nach den ins Verfahren eingeführten Erkenntnissen ergibt sich, dass aufenthaltsberechtigte Staatenlose krankenversichert sind, auch wenn sie kein Daueraufenthaltsrecht haben. [...]