VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Beschluss vom 01.04.2022 - 1 B 60/22 - asyl.net: M30674
https://www.asyl.net/rsdb/m30674
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung in die Niederlande für Person mit psychischer Erkrankung:

In den Niederlanden erfolgt außer für unbegleitete Minderjährige keine spezialisierte Unterbringung für besonders vulnerable Schutzsuchende. Es ist nicht ausgeschlossen, dass einer psychisch erkrankten Person, die ihrer Erkrankung entsprechend unterzubringen ist, deshalb in den Niederlanden eine Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit droht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, psychische Erkrankung, Attest, Unterbringung, besonders schutzbedürftig, Niederlande,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Vorliegend ist die Abschiebungsanordnung in Ziff. 3 des angefochtenen Bescheides nach summarischer Prüfung weder offensichtlich rechtmäßig noch offensichtlich rechtswidrig. Nach der deswegen vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt das Interesse des Antragstellers an einem Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Abschluss des Klageverfahrens gegenüber dem öffentlichen Interesse an der wirksamen und effektiven Durchsetzung der Regelungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. [...]

Zwar sind die Niederlande als Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 13; zul. berichtigt durch Berichtigung, ABl. L 49 v. 25.2.2017, S. 50) (im Folgenden: Dublin-III-VO) zunächst zuständig, sodass der Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig abgelehnt werden könnte. [...]

Es ist aber offen und kann im Rahmen der lediglich gebotenen summarischen Prüfung nicht abschließend beurteilt werden, ob ein Zuständigkeitsübergang auf die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und UAbs. 3 Dublin-III-VO vorliegt und die Abschiebungsanordnung mithin rechtswidrig oder rechtmäßig ist. [...]

Diesen Maßstab zugrunde legend sind die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und UAbs. 3 Dublin-III-VO allgemein für Dublin-Rückkehrer, die in den Niederlanden bereits einen Asylantrag gestellt haben, zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts aller Voraussicht nach zwar nicht gegeben (ebenso VG Osnabrück, Beschl. v. 17.3.2022 – 5 B 33/22 –, n. v.; VG Göttingen, Beschl. v. 15.3.2022 – 2 B 50/22 –, n. v.; VG Dresden, Beschl. v. 7.12.2021 – 3 L 863/21.A –, juris; VG Chemnitz, Beschl. v. 14.10.2021 – 5 L435/21.A –, juris; VG Hannover, Beschl. v. 25.8.2021 – 5 B 3214/21 –, n. v.; VG Würzburg, Beschl. v. 14.12.2020 – W 8 S 20.50309 –, juris). Allerdings bestehen im vorliegenden Einzelfall Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller im Falle seiner Überstellung in die Niederlande mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt sein könnte. Aufgrund dieser Anhaltspunkte ist offen, ob die Abschiebungsanordnung rechtlich haltbar ist. [...]

Allerdings bestehen Zweifel, ob der Antragsteller entsprechend seiner gesundheitlichen Situation in den Niederlanden während des laufenden Folgeverfahrens untergebracht werden würde. Laut Bericht des Psychologen vom Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen (NTFN) vom 2022 wurde bei dem Antragsteller eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (ICD-10; F 32.2 G) diagnostiziert und der Antragsteller als besonders schutzbedürftige Person mit psychischen Störungen nach der EU-Aufnahmerichtlinie eingeordnet. Empfohlen wurde daher eine geeignete Unterbringung in Form einer Einzelunterbringung. Zudem wurde eine psychiatrische und psychotherapeutische kontinuierliche Behandlung für erforderlich gehalten, weswegen eine Verteilung an einen Standort im Einzugsgebiet einer geeigneten Behandlung, bspw. psychosoziales Zentrum (Standorte: Lüneburg, Braunschweig, Oldenburg, Osnabrück, Hannover, Göttingen), empfohlen wurde. Zwar stellt der Bericht des Psychologen vom 2022 kein qualifiziertes fachärztliches Attest i.S.v. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AsylG dar. Allerdings ergeben sich daraus bereits Anhaltspunkte für eine gesundheitliche Beeinträchtigung des Antragstellers. Diese Anhaltpunkte werden weiter gestützt durch die vom Antragsteller im Verwaltungsverfahren vorgelegten niederländischen Unterlagen, woraus ebenfalls eine psychische Beeinträchtigung erkennbar wird (siehe Schreiben eines Psychiaters v. .2021 und v. .2021). Auch im Protokoll der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrages beim Bundesamt am 24. Januar 2022 (dort S. 5) wurde als Vermerk aufgenommen, dass die abgegebenen niederländischen Schreiben verschiedene psychische Erkrankungen, wie Depression, Persönlichkeitsstörungen und Suizidalität, benennen. [...] Nach der Erkenntnislage erfolgt aber in den Niederlanden außer für unbegleitete Minderjährige keine spezialisierte Unterbringung für vulnerable Asylsuchende, obwohl dies immer wieder gefordert wird. Auch wenn die Unterbringungsagentur COA sicherzustellen hat, dass angemessene Unterbringungsbedingungen vorhanden sind, erstrecken sich die dafür genannten Beispiele lediglich auf die Unterbringung von Rollstuhlfahrer im Erdgeschoss oder die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen durch Asylsuchende, die sich nicht selbstständig waschen können (siehe aida, Country Report: Netherlands – 2020 Update, S. 83). Für den Antragsteller liegen hier aber konkrete Anhaltspunkte vor, dass er zwingend eine Einzelunterbringung mit geeigneter kontinuierlicher psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlungsmöglichkeit bedarf, welche von den Beispielen für angemessene Unterbringungsbedingungen nicht erfasst ist. [...] Zumindest kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer nicht geeigneten Unterbringung eine – wie vom EuGH angeführte – Situation der Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit für den Antragsteller drohen könnte. [...]