VG Düsseldorf

Merkliste
Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 12.04.2022 - 12 L 627/22.A - asyl.net: M30678
https://www.asyl.net/rsdb/m30678
Leitsatz:

Aufschiebende Wirkung der Klage gegen eine Abschiebungsanordnung nach Polen:

Die Kapazitäten Polens zur Aufnahme von Flüchtlingen sind zurzeit erschöpft. Es besteht deshalb ein Anspruch auf Selbsteintritt gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: Übersicht: Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf Dublin-Überstellungen vom 2.6.2022)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Polen, Selbsteintritt,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Nach Art. 17 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-Verordnung kann jeder Mitgliedstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin III-Verordnung beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der Mitgliedstaat, der gemäß diesem Absatz beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen (Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung). [...]

Dieses Ermessen ist im vorliegenden Fall jedoch auf Null reduziert (vgl. zur Möglichkeit einer Ermessensreduktion OVG NRW, Beschluss vom 8. Dezember 2017 - 11 A 1966/15.A -, juris, Rn. 6 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Juli 2016 - A 11 S 974/16 -, juris, Rn. 45; Günther, in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 32. Edition, Stand: 1. Oktober 2021, § 29 AsylG, Rn. 61; in diese Richtung auch BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16/18 -, juris, Rn. 38, und Beschluss vom 19. Mai 2021 - 1 B 11/21 -, juris, Rn. 17).

Das Ermessen verdichtet sich dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt, wenn jede andere Entscheidung unvertretbar wäre. [...]

Eine Ermessensreduktion kann sich auch aus dem Beschleunigungsgrundsatz der Dublin III-Verordnung ergeben. Steht zum Entscheidungszeitpunkt hinreichend sicher fest, dass innerhalb der nächsten sechs Monate eine Überstellung aus tatsächlichen Gründen nicht möglich sein wird oder durchgeführt werden kann, so gebietet der dem Dublin-System innewohnende Beschleunigungsgedanke, dass bereits jetzt von einer Unmöglichkeit der Überstellung und damit dem künftigen Zuständigkeitsübergang auszugehen ist (vgl. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung) (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Dezember 2017 - 11 A 1966/15.A -, juris, Rn. 8; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Juli 2016 - A 11 S 974/16 -, juris, Rn. 45; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 20. Dezember 2016 - 8 LB 184/15 -, juris, Rn. 61; dies andeutend auch BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16/18 -, juris, Rn. 38; EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C- 411/10 und C-493/10 -, juris, Rn. 98, 108).

Nach diesen Maßgaben geht die Kammer derzeit davon aus, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Denn eine Überstellung der Antragsteller nach Polen  kommt vor dem Hintergrund der aktuellen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf absehbare Zeit nicht in Betracht; die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates ist nicht gegeben. [...]

Die Kapazitäten Polens zur Aufnahme von Flüchtlingen sind zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erschöpft. Der polnische Staat verzeichnet aktuell einen in der jüngeren europäischen Geschichte einzigartigen Zustrom von Geflüchteten. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine am 24. Februar 2022 haben bereits 2.622.117 Personen die ukrainisch-polnische Grenze überschritten (vgl. UNHCR, Operational Data Portal - Ukraine Refugee Situation, abrufbar unter: data2.unhcr.org/en/situations/ukraine (zuletzt abgerufen am 12. April 2022)). [...]