VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 05.04.2022 - W 1 K 22.50078 - asyl.net: M30682
https://www.asyl.net/rsdb/m30682
Leitsatz:

Rechtswidrige Abschiebungsanordnung im Dublin-Verfahren hinsichtlich der Slowakei:

1. Die Slowakische Republik hat am 1. März 2022 erklärt, zunächst keine Überstellungen im Rahmen der Dublin III-Verordnung mehr entgegenzunehmen. Mangels positiv geklärter (Wieder-)Aufnahmebereitschaft steht entgegen § 34a Abs. 1 AsylG nicht fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Die Abschiebungsanordnung ist deshalb rechtswidrig,

2. Die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung beeinflusst nicht die Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung und der Feststellung, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: Übersicht: Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf Dublin-Überstellungen vom 01.06.2022)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Slowakische Republik, Abschiebungsanordnung, Unzulässigkeit,
Normen: AsylG § 34a Abs. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

3. Die in Ziffer 3 des angegriffenen Bescheides verfügte Abschiebungsanordnung in die S. Republik ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt dann, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesem Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

Voraussetzung hierfür ist, dass eine Überstellung in den Zielstaat nicht nur rechtlich zulässig, sondern zeitnah auch tatsächlich möglich ist (vgl. Pietzsch, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK Ausländerrecht, 32. Edition, Stand 1.1.2022, § 34a AsylG, Rn. 9; Müller, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 34a AsylG, Rn. 11; Hailbronner, in: Hailbronner (Hrsg.), Ausländerrecht, 5. Update 2021, § 34a AsylG, Rn. 38; GK-AsylG, Funke-Kaiser, § 34a AsylG Rn. 13 unter Hinweis auf die Normstruktur des § 34a Abs. 1 AsylG und insbesondere den dort (subsidiären) Abs. 1 Satz 4; a.A. wohl Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein, B.v. 21.11.2016 - 2 LA 111/16 -, juris Rn. 6, allerdings unter nachfolgendem Hinweis darauf, dass eine Mitteilung von Ungarn, dass Dublin-Überstellungen nicht mehr akzeptiert würden, nicht vorliege, was sich im vorliegenden Fall bezüglich der Slowakischen Republik gerade - entscheidungserheblich - abweichend darstellt).

Diese Feststellung kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr getroffen werden (vgl. zum Ganzen: VG Aachen, B.v. 18.3.2022 - 6 L 156/22.A - juris betreffend eine Dublin-Überstellung nach Polen; in Abgrenzung zu VG Würzburg, B.v. 14.3.2022 - W 1 S 22.50072 - juris). Dabei kann dahinstehen, ob mit Blick auf vorübergehende und ggf. noch nicht sicher absehbare Überstellungshindernisse insofern die prognostisch große Wahrscheinlichkeit einer Überstellungsmöglichkeit innerhalb der Überstellungfristen des Art. 29 Dublin III-Verordnung (d.h. regelmäßig binnen sechs Monaten; vorliegend bis zum Ablauf des 28.8.2022) als ausreichend zu erachten ist (vgl. in diesem Sinne bspw. VG Ansbach, B.v. 18.03.2020 - AN 17 S 20.50116 -, juris (für pandemiebedingte Einreisebeschränkungen); Hailbronner, AsylG, § 34a Rn. 38).

Denn jedenfalls die grundsätzliche (Wieder) Aufnahmebereitschaft des Zielstaats muss im entscheidungserheblichen Zeitpunkt nach höchst- und obergerichtlicher Rechtsprechung positiv geklärt sein. Dies ergibt sich sowohl aus dem klaren Wortlaut der Norm ("feststeht") als auch aus dem Sinn und Zweck des Dublin-Systems und der mit ihm verwirklichten verfahrensrechtlichen Dimension der materiellen Rechte, die die RL 2011/95/EU (sog. Anerkennungsrichtlinie) Schutzsuchenden einräumt (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2016 - 1 C 24.15 -, juris, Rn. 20 (zu § 27a AsylG a.F.); OVG NRW, B.v. 28.4.2015 - 14 B 502/15.A -, juris, Rn. 7 ff. (zu § 34a AsylG); im Anschluss hieran BayVGH, U.v. 7.4.2016 - 20 B 14.30214 -, juris, Rn. 17 und OVG Rheinland-Pfalz, U.v. 18.2.2016 - 1 A 11081/14 -, BeckRS 2016, 43342, Rn. 37; zu einer ähnlichen Situation (pandemiebedingte Aussetzung aller Dublin-Überstellungen durch einen Mitgliedstaat) VG Aachen, U.v. 6.3.2020 - 9 K 3086/18.A -, juris, Rn. 91; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 29 AsylG, Rn. 53; Hailbronner, in: Hailbronner (Hrsg.), Ausländerrecht, 5. Update 2021, § 34a AsylG, Rn. 38; Pietzsch, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK Ausländerrecht, 32. Edition, Stand 1.1.2022, § 34a AsylG, Rn. 12; Hofmann, Ausländerrecht, § 34a AsylVfG, Rn. 11-17). Verfehlt scheint es demgegenüber, wenn das Bundesamt in seiner Stellungnahme vom 14. März 2022 zur inmitten stehenden Rechtsfrage abschließend darauf hinweist, dass eine Entspannung der Migrationslage in der Slowakischen Republik innerhalb von weniger als sechs Monaten nicht vollkommen ausgeschlossen erscheint. Es drängt sich insoweit auf, dass ein Ereignis, das "nicht vollkommen ausgeschlossen" erscheint, evident ein Aliud gegenüber dem vom Gesetzgeber in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG begrifflich klar geregelten "Feststehen" der Durchführbarkeit der Abschiebung darstellt.

An einer positiv geklärten (Wieder) Aufnahmebereitschaft fehlt es vorliegend eindeutig. Zwar hat die Slowakische Republik mit Schreiben vom 28. Februar 2022 der Aufnahme des Klägers gemäß Art. 12 Abs. 1 Dublin III-Verordnung zunächst zugestimmt. Jedoch hat die Slowakische Republik sodann - entsprechend der Mitteilung des Bundesamtes vom 14. März 2022, auf gerichtliche Nachfrage nochmals bestätigt mit Schreiben vom 28. März 2022 - am 1. März 2022 erklärt, dass Überstellungen im Rahmen der Dublin III-Verordnung ab 2. März 2022 zunächst nicht mehr entgegengenommen würden, um den aus dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 resultierenden erheblichen Flüchtlingsbewegungen gerecht zu werden. [...]

5. Abschließend ist festzustellen, dass die Rechtswidrigkeit der Ziffern 3 und 4 des Bescheides hier nicht die Rechtswidrigkeit der Ziffern 1 und 2 zur Folge hat. Denn am Vorliegen der grundsätzlichen Zuständigkeit der S., der Voraussetzungen der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG sowie dem Nichtvorliegen der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG hat sich durch die Aufhebung der Abschiebungsanordnung in die Slowakische Republik nichts geändert, worauf auch die Vorschrift des § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG hindeutet. Zudem steht vorliegend nicht zu befürchten, dass sich der Kläger "zu einem refugee in orbit entwickelt", da der Lauf der Überstellungsfrist durch die vorliegende Entscheidung nicht beeinflusst wird und nach einem etwaigen Ablauf der derselben die Zuständigkeit auf die Beklagte übergeht, Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-Verordnung. Ein effektiver Zugang zum Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes und eine zügige Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz, vgl. Erwägungsgrund 5 der Dublin III-Verordnung, ist nach Auffassung des Gerichts durch die Aufrechterhaltung der Ziffern 1 und 2 des Bescheides nicht gefährdet. [...]