VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 02.03.2022 - 1 K 4543/21.A - asyl.net: M30689
https://www.asyl.net/rsdb/m30689
Leitsatz:

Vorlage an den EuGH mit Fragen in Bezug auf das Asylfolgeverfahren nach Ausreise in das Herkunftsland:

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH unter Anderem zur Klärung der Frage, ob die Regelung der § 29 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 71 Abs. 1 AsylG unionsrechtswidrig ist, soweit sie bestimmt, dass ein erneuter Asylantrag unabhängig davon unzulässig ist, ob die antragstellende Person nach der Ablehnung ihres ersten Antrags und vor der Stellung des weiteren Antrags in ihr Herkunftsland zurückgekehrt ist.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: Schlussanträge des Generalanwalts vom 18.03.2021, Rs. C-8/20, inzwischen entschieden: EuGH, Urteil vom 20.05.2021 - C-8/20 L.R. gg. Deutschland (Asylmagazin 9/2021, S. 342 ff.) - asyl.net: M29661)

Schlagwörter: Vorlagebeschluss, Asylfolgeantrag, Rückkehr, Unzulässigkeit, subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot, Herkunftsland,
Normen: AsylG § 71 Abs. 1, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Bst. d, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, VwVfG § 51 Abs. 1, AsylG § 4, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU dahingehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, wonach ein weiterer Antrag auf internationalen Schutz unabhängig davon als unzulässig abzulehnen ist, ob der betroffene Antragsteller nach der Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz und vor der Stellung eines weiteren Antrags auf internationalen Schutz in sein Herkunftsland zurückgekehrt ist?

2. Macht es im Rahmen der Beantwortung der Frage 1 einen Unterschied, ob der betroffene Antragsteller in sein Herkunftsland abgeschoben wurde oder ob er freiwillig dorthin zurückgekehrt ist?

3. Ist Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU dahingehend auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn mit der Entscheidung über den früheren Antrag zwar nicht über die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus entschieden wurde, jedoch Abschiebungsverbote geprüft wurden und diese Prüfung inhaltlich mit der Prüfung der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus vergleichbar ist?

4. Sind die Prüfung von Abschiebungsverboten und die Prüfung der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus vergleichbar, wenn bei der Prüfung von Abschiebungsverboten kumulativ zu prüfen war, ob dem betroffenen Antragsteller in dem Staat, in den er abgeschoben werden soll,

a) die konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung,

b) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,

c) ein Verstoß gegen die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK) oder

d) eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit
droht oder ob er

e) als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist? [...]

6 Gegen diesen Bescheid haben die Kläger am 18. August 2021 Klage erhoben. Der angefochtene Bescheid sei schon deshalb rechtswidrig, weil die zuständige Behörde ihren Asylantrag nicht als unzulässig hätte ablehnen dürfen. Dies ergebe sich schon daraus, dass sie zwischenzeitlich mehr als zehn Jahre im Libanon gelebt hätten. Zudem hätten sie Umstände vorgetragen, die sich nach ihrer Rückkehr in den Libanon zugetragen hätten.

7 Dagegen ist die Beklagte der Ansicht, dass die Asylanträge der Kläger vom 11. Februar 2021 als Folgeanträge i.S.d. §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) einzustufen seien. Ein Folgeantrag liege unabhängig davon vor, ob ein Antragsteller zwischenzeitlich in sein Herkunftsland zurückgekehrt sei. Etwas anderes ergebe sich weder aus Art. 2 lit. q) noch aus Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU. Gemäß Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU könne ein Folgeantrag als unzulässig abgelehnt werden, wenn keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind. Es sei daher im Einzelfall zu prüfen, ob die neuen Umstände oder Erkenntnisse zu einer solchen Wahrscheinlichkeit beitrügen. Allein der Umstand einer Rückkehr in das Herkunftsland sei nicht ausreichend, eine solche Wahrscheinlichkeit zu bejahen. [...]

52 1. Die Klärungsbedürftigkeit der Fragen 1 und 2 ergibt sich aus den Ausführungen des Generalanwalts T. X. (im Folgenden: Generalanwalt) im Verfahren C-8/20. Der Generalanwalt ist unter Hinweis auf Art. 19 Abs. 3 Unterabs. 2 der Verordnung (EU) 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 31, sog. Dublin III-Verordnung, im Folgenden: VO 604/2013) der Ansicht, dass Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU keine Anwendung findet, wenn der Antragsteller zwischen Erst- und Folgeantrag in sein Herkunftsland abgeschoben wurde (vgl. Schlussanträge vom 18. März 2021, ECLI:EU:C:2021:221, Rn. 30 und 34 ff.).

53 Zwar wurden die Kläger im vorliegenden Verfahren anders als die Kläger im Verfahren C-8/20 nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben; vielmehr sind sie freiwillig dorthin zurückgekehrt. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich die aufgeworfene Frage aber im Falle einer freiwilligen Rückkehr in das Herkunftsland entsprechend. Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 sieht eine Art. 19 Abs. 3 Unterabs. 2 VO 604/2013 vergleichbare Rechtsfolge für den Fall vor, dass ein Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlässt. Hierunter fällt auch die freiwillige Rückkehr in das Herkunftsland.

54 Der Gerichtshof ist in seinem im Verfahren C-8/20 ergangenen Urteil nicht auf die vorstehend wiedergegebenen Ausführungen des Generalanwalts eingegangen (vgl. Urteil vom 20. Mai 2021 - C-8/20 (L.R.) -, ECLI:EU:C: 2021:404, Rn. 27 ff.).

55 Fragen 1 und 2 sind entscheidungserheblich, weil der auf Aufhebung des Bescheids vom 11. August 2021 gerichteten Klage nur dann stattzugeben ist, wenn der Ansicht des Generalanwalts zu folgen ist. Anderenfalls wäre die Klage auf Grundlage des nationalen Rechts abzuweisen: Nach derzeitigem Sach- und Streitstand liegen keine Gründe für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, namentlich keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage vor, ob den Klägern internationaler Schutz zu gewähren ist. §§ 71 Abs. 1 AsylG, 51 Abs. 1 VwVfG lässt sich auch keine Einschränkung dahingehend entnehmen, dass die Anwendung dieser Regelungen ausgeschlossen ist, wenn der Antragsteller zwischen Erst- und Folgeantrag in sein Herkunftsland zurückgekehrt ist. [...]