VG Minden

Merkliste
Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 27.04.2022 - 10 K 429/20.A - asyl.net: M30702
https://www.asyl.net/rsdb/m30702
Leitsatz:

Keine Rücknahme der Flüchtlingsanerkennung hinsichtlich Eritreas:

1. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist zurückzunehmen, wenn sie aufgrund unrichtiger Angaben oder infolge Verschweigens wesentlicher Tatsachen erteilt worden ist. Eine bloß fehlerhafte Würdigung der Sach- oder Rechtslage vermag die Rücknahme nicht zu begründen.

2. Wer in Eritrea Nationaldienst geleistet hat, besitzt die eritreische Staatsbürgerschaft. Eine zunächst mit Geburt erlangte äthiopische Staatsangehörigkeit erlischt, sobald die eritreische Staatsangehörigkeit erlangt wird.

3. Um wenige Monate abweichende Zeitangaben stellen die Glaubhaftigkeit eines Vorbringens nicht in Frage, wenn die geschilderten Ereignisse lange zurückliegt. Es ist lebensnah, dass sich eine Person an einen fast zehn Jahre zurückliegenden Vorgang nicht mehr in Gänze korrekt erinnert. 

4. Ausführungen zur eritreischen Gruppe der Saho.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Eritrea, Äthiopien, Staatsangehörigkeit, Rücknahme, Flüchtlingseigenschaft, Falschangaben, Saho. Nationaldienst, Glaubwürdigkeit,
Normen: AsylG § 73 Abs. 2 S. 1, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Hiernach ist die Anerkennung als Asylberechtigter zurückzunehmen, wenn sie aufgrund unrichtiger Angaben oder infolge Verschweigens wesentlicher Tatsachen erteilt worden ist und der Ausländer auch nicht aus anderen Gründen anzuerkennen ist. Satz 1 ist auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entsprechend anzuwenden. [...]

Eine schlicht fehlerhafte Würdigung der Sach- und Rechtslage vermag die Rücknahme dagegen nicht zu begründen. [...]

Letztlich besitzt nach der in Eritrea und Äthiopien bestehenden, insofern übereinstimmenden und letztlich maßgeblichen Staatenpraxis [...] aufgrund ihrer jeweiligen Staatsangehörigkeitsgesetze ex lege ausschließlich die eritreische und nicht mehr die zunächst mit Geburt erlangte äthiopische Staatsangehörigkeit, wer in Eritrea Nationaldienst geleistet hat. An der inhaltlichen Richtigkeit der diesbezüglichen Auskunft des Auswärtigen Amtes vom ... Februar 2022 (dort Seite 1 und 2) an das erkennende Gericht besteht aufgrund deren Übereinstimmung mit den Aussagen der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel kein Zweifel. Gleiches gilt für die Angabe des Klägers, in Eritrea Nationaldienst geleistet zu haben und aus diesem desertiert zu sein. [...]

Die um lediglich wenige Monate abweichende Angabe des Klägers im schriftlichen Verfahren zu dem Zeitraum, in dem er Nationaldienst geleitet hat, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung mit der Einschaltung eines Mittelsmannes, welcher für ihn den Fragebogen ausgefüllt hat, nachvollziehbar eingeräumt. Diese marginale Abweichung ist darüber hinaus aber auch nicht geeignet, beachtliche Zweifel am Wahrheitsgehalt der Einlassung des Klägers, er habe im Nationaldienst Eritreas gedient, zu begründen. Im Gegenteil ist es lebensnah, wenn sich eine Person an einen fast zehn Jahre zurückliegenden Vorgang nicht mehr in Gänze korrekt erinnert. [...]

Saho identifizieren sich nicht als Mitglieder einer homogenen Volksgruppe. Der eritreische Staat verfolgt im Rahmen seiner ethnischen Politik den Gedanken der nationalen Einheit. Dementsprechend hat er neun staatstragende ethno-linguistische Gruppierungen definiert. [...]

Nicht alle Clans erkennen ihre Zugehörigkeit zu den "Saho" jedoch an. Bei der Bezeichnung Saho handelt es sich daher eher um einen Sammelbegriff verschiedener Clans, die sich sowohl in sprachlicher wie in kultureller Hinsicht nur wenig unterscheiden. [...]

Wesentliche Ursache für die Abgrenzung sind beispielsweise aus der überwiegend agrarsubsistenten Lebensform der Saho und der pastoralsubsistenten Lebensform der Asaworta resultierende Konflikte um Landnutzungsrechte. [...]